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Getönte Fenster
Blake Pierce


Ein Chloe Fine Suspense Psycho-Thriller #6
“Ein Meisterwerk von Thriller und Geheimnis. Blake Pierce hat wunderbare Charaktere mit psychologischen Seiten entwickelt und so gut beschrieben, dass wir uns in ihren Gehirnen wähnen, wir folgen ihren Ängsten und jubeln über ihre Erfolge. Voller Windungen, dieses Buch wird sie bis zur letzten Seite wach halten.”

–-Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (re Verschwunden)



GETÖNTE FENSTER (Ein Chloe Fine Suspense Psycho-Thriller) ist Buch #6 in der neuen psycho-thriller Serie der erfolgreichen Autorin Blake Pierce, deren #1 Bestseller Verschwunden (Buch #1) (kostenfreier Download erhältlich) über 1,000 fünf Sterne Bewertungen hat.



Als ein beliebter Personaltrainer in einem edlen Vorort ermordet wird, liegt es an FBI VICAP Spezial Agentin Chloe Fine, 27, eine kleine Stadt voller untreuer Partner zu durchleuchten und herauszufinden, wer ihn tot haben wollte – und warum.



Chloe lernt, dass sich hinter den manikürten Rasen zerbrochene Ehen, einsame Ehepartner, Geheimnisse und endlose Lügen verstecken – alle verdeckt vom perfekten Schleier. Unter der vorsichtig errichteten Fassade der polierten, aufrechten Gemeinde liegt eine zutiefst verlogene Gesellschaft.



Welche Geheimnisse haben zu dem Mord an dem Mann gefГјhrt?



Wer wird als nächster sterben?



Ein emotionell verflochtener Psycho-Thriller mit komplizierten Charakteren, Kleinstadt Atmosphäre und herzbeschleunigender Spannung, GETÖNTE FENSTER ist Buch 6 einer spannenden neuen Serie – die Sie bis spät in die Nacht fesseln wird.



Buch #7 der Chloe Fine Serie wird auch bald erhältlich sein.





Blake Pierce

GETГ–NTE FENSTER




getönte fenster




(EIN SPANNENDER CHLOE FINE PSYCHO-THRILLER – BUCH 6)




b l a k eВ В  p i e r c e



Blake Pierce

Blake Pierce ist der USA Today Bestsellerautor der RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher sechzehn Bücher umfasst. Er ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Mystery-Reihe, die bisher aus dreizehn Büchern besteht, der AVERY BLACK Mystery-Reihe, die aus sechs Büchern besteht, der KERI LOCKE Mystery-Reihe, die in fünf Büchern erhältlich ist, der DAS MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher fünf Bücher umfasst, der KATE WISE Mystery-Reihe, von der bisher sechs Bücher erhältlich sind, der spannenden CHLOE FINE psychologischen Suspense-Mystery-Reihe, die bisher aus fünf Büchern besteht, der JESSE HUNT psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, von der es bisher fünf Bücher gibt, der AU PAIR psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, die bisher aus zwei Büchern besteht, und der ZOE PRIME Mystery-Reihe, von der bisher zwei Bücher erwerblich sind.



Blake ist selbst ein passionierter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres, weshalb er sich freuen würde, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie doch seine Webseite www.blakepierceauthor.com, um mehr über ihn herauszufinden und in Kontakt zu bleiben!



Copyright © 2020 Blake Pierce Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E–Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Copyright Umschlagsbild alliance images genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com



BГњCHER VON BLAKE PIERCE

DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORГњBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)



ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)



JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LГ„CHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LГњGE (Band #5)



CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LГњGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)

GETГ–NTE FENSTER (Band #6)



KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WГњSSTE (Band #1)

WENN SIE SГ„HE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WГњRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WГњRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WГњRDE (Band #5)

WENN SIE FГњRCHTETE (Band #6)



DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TГ–TET (Band #6)



RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKГ–DERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ГњBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)



EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE

EINST GELГ–ST



MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FГњHLT (Band #6)

EHE ER SГњNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLГњNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFГ„LLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)



AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRГњNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)



KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWГ„CHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)




PROLOG


Viktor Bjurman kannte die Mythen und Geschichten über das Runner�s High. Er hatte es selbst noch nie erlebt – zumindest nicht beim Laufen. Obwohl Viktor mehr Sport trieb, als der Durchschnittsmann, war das Laufen nicht etwas, dem er ernsthaft nachging. Er ging zwar ab und zu joggen, doch wirklich lange Strecken waren einfach nicht sein Ding. Er beneidete diejenigen, die das Runner’s High erlebt hatten jedoch nicht. Nein, er hatte es ja selbst oft auch ohne zu Joggen erlebt. Als Personal Trainer wusste er, dass das sogenannte Runner’s High eine Erfahrung war, die jedermann machen konnte, der irgendeinen Sport trieb und kein Problem damit hatte, sich bis an seine Grenzen zu bringen.

Er hatte es einige Male während seines Kugelhanteltrainings, dem er mit religiöser Regelmäßigkeit nachging, erlebt, ebenso wie während eines intensiven Trainings im Gewichtheben, als er so lange trainiert hatte, dass seine Arme irgendwann nachgaben. Dieses sogenannte High war nichts anderes, als dass sein Körper einen neuen Antrieb bekam, der für die meisten Menschen im Verborgenen blieb – ein Antrieb, zu dem nur diejenigen Zugang fanden, die die psychischen Barrieren und Beschränkungen durchbrachen, mit welchen die meisten Menschen sich umgaben.

Während er das Haus auf der Primrose Street verließ, erlebte Viktor ein ganz anderes High. Er fühlte sich abenteuerlustig und mindestens zwanzig Jahre jünger, als sein tatsächliches Alter von Achtunddreißig. Er hatte gerade sein letztes Training an diesem Tag beendet – einem sehr vollen Tag, an dem er fünf verschiedene Häuser für private Trainings besucht hatte, sowie zwei weitere Kurse in einem Fitnessstudio in der Nähe abgehalten hatte. Er war müde und fertig… doch er erlebte auch etwas, was dem Runner’s High sehr nahe kam.

Er hatte sich seine beste Klientin für das letzte Training des Tages aufgespart. Theresa Diaz war eine 47-jährige Frau, mit der er bereits seit über einem Jahr arbeitete. Sein Training hatte sie dazu befähigt innerhalb dieses Jahres mehr als fünfzehn Kilo abzunehmen und ihrem Traumkörper näher zu kommen. Die starke Gewichtsabnahme hatte ihr Selbstbewusstsein gesteigert.

Viktor nahm an, dass das der Grund sein musste, aus dem sie so energisch auf die Affäre bestanden hatte. Sie war verheiratet, und das seit dreiundzwanzig Jahren. Sie hatte offen zugegeben, dass ihr Mann sich nicht um sie scherte und ihr nur Aufmerksamkeit schenkte, wenn er sie für seine eigenen körperlichen Bedürfnisse brauchte. Genau dieses Gespräch hatte Viktor eine Tür geöffnet. Und obwohl auch er verheiratet war, hatte er die Gelegenheit ergriffen.

Es war nicht die erste Klientin, mit der er schlief, daher hatte er gelernt jegliche Schuldgefühle wegzudrücken. Er und Theresa hatten nun seit gut drei Monaten Sex, nachdem sie die vorherigen fünfzehn Monate die Spannung während des gemeinsamen Sporttreibens hatten aushalten müssen. Viktor hatte gewusst, dass sie gut sein würde. Eine ähnliche Erfahrung, die er vor einem Jahr gemacht hatte, hatte ihm das soweit nahegelegt; scheinbar waren Frauen, die von ihren Ehemännern ignoriert worden waren und dann irgendwann ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden hatten, typischerweise begierig, willig und aggressiv im Bett.

Oder, wie vor fГјnf Minuten mit Theresa, auch auf dem Wohnzimmerboden.

Er wusste, dass er sich nicht beeilen musste; Theresas Ehemann war verreist. Er hatte es erwähnt, als er sie per FaceTime angerufen hatte, während sie tatsächlich noch im Training gewesen waren. Trotzdem joggte er ein wenig schneller als sonst, als er ihr Haus verließ. Sein eigenes Haus war nicht allzu weit entfernt, bloß sechs Häuserblocks östlich von hier. Es würde ein schöner, erfrischender Lauf sein. Es wurde gerade dunkel und die Temperatur war kühle 15 Grad.

Er spielte die Szenen ihrer Trainingseinheit immer wieder in seinem Kopf ab (dem zweiten, außerplanmäßigen Teil, nicht das tatsächliche Training, für das er bezahlt wurde). Das Ganze war wie in seinen wildesten Träumen gewesen, direkt wie aus einem Pornodrehbuch. Während seiner Karriere als Personal Trainer hatte er schon einige Herzen erobert, doch er dachte, dass Theresa Diaz sich als die Beste dieser Eroberungen herausstellen würde. Wenn sie miteinander intim waren, war es fast so, als würde sie ihre Aggression an ihm auslassen, die eine lieblose Ehe und dreiundzwanzig vergeudete Jahre in ihr geschürt hatten. Und er ließ sie nur zu gerne gewähren. Er dachte sich, dass er auf eine komische Weise ihrem erbärmlichen Ehemann eigentlich dankbar sein sollte, dass er –

Sein Gedanke wurde abrupt unterbrochen, als er etwas auf sich zugeflogen sah.

Er hatte keine Ahnung, was es war. Ein Auto? Hatte irgendjemand etwas nach ihm geworfen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass es mit groГџer Kraft in seine Magengrube einschlug.

Viktor brach zusammen und fiel auf die Knie. Während er fiel, erhaschte er einen Blick auf den Gegenstand, der ihn erfasst hatte. Es war ein Baseballschläger aus Aluminium. Und sobald er ihn erblickte, hob sich dieser erneut. Viktor versuchte, Luft in seine Lungen zu saugen, doch er konnte nicht atmen. Der Schlag hatte ihn atemlos gemacht und einen schrecklichen Schmerz auf seiner rechten Seite verursacht. All das kam zu einer grausamen Kulmination, als der den Schläger erneut näherkommen sah.

Dieses Mal traf er seine Brust. Es folgte ein merkwürdiges Geräusch – so, als hätte die Person, die den Schläger hielt, einen leeren Karton statt seines Brustkorbes getroffen. Er spürte eine Explosion des Schmerzes in seiner Brust, als etwas in seinem Inneren zerbrach. Er wollte schreien, doch er konnte nicht einatmen. Er schaffte es jedoch seine Arme zu erheben, als er sah, dass der Schläger bereits zu einem neuen Schlag ansetzte.

Er konnte den Schläger davon abhalten, erneut seinen Brustkorb zu treffen, jedoch zersplitterte sein rechtes Handgelenk dabei. Eine quäkende Art Stöhnen kam über seine Lippen, als er es endlich schaffte, nach Luft zu holen.

Er sah die Gestalt hinter dem Baseballschläger. Sie war männlich, doch er konnte das Gesicht nicht erkennen. In Schmerzen fragte er sich, ob es Theresas Ehemann war. Es machte Sinn, aber –

Logik und Vernunft verließen ihn, als der Schläger ihn erneut traf. Dieses Mal erwischte er seine linke Seite und brach ihm die Rippen. Er versuchte erneut zu schreien, doch es war zu viel – keine Luft, zu viel Schmerz. Er öffnete seinen Mund in der Hoffnung, dass irgendetwas rauskommen würde.

Doch da war nichts. Nur das Hinauffliegen und Herabfallen des Baseballschlägers. Er bekam erneut einen Schlag in die Magengrube, dann den Brustkorb, dann folgte ein weiterer Kataklysmus des Schmerzes, als der Schläger seine rechte Schulter erfasste und den Knochen pulverisierte.

Viktor hatte den Überblick verloren, wie oft der Schläger bereits auf ihn eingeschlagen hatte.

Irgendwo um den neunten oder zehnten Schlag schien irgendetwas in ihm nachgegeben zu haben, gerissen zu sein, wie ein unsichtbarer Faden. Er sah den Baseballschläger erneut auf ihn hinunterkommen, doch konnte gnädigerweise den Schmerz nicht mehr spüren, als eine plötzliche Dunkelheit ihn einhüllte und davontrug.




KAPITEL EINS


Chloe Fine hörte der Stimme ihres Vaters zu, während draußen ein Spätsommergewitter polterte. Sie saß auf ihrer Couch in ihrer ruhigen Wohnung und hielt das Aufnahmegerät ihrer Schwester in der Hand. Sie drückte immer wieder auf „Abspielen“, hörte eine Weile lang zu und spulte dann zurück, um es erneut anzuhören. Sie trug ein altes T-Shirt und eine bequeme Jogginghose, ihre Knie an den Brustkorb gedrückt, so als wäre sie ein kleines Mädchen, dass einer morbiden Gute-Nacht-Geschichte lauschte.

Sie hatte den einen Satz, in dem er den vorsätzlichen Mord ihrer Mutter zugab, immer und immer wieder angehört. Dieser Satz war beinahe zu einem Mantra geworden, zu dem Refrain eines Liedes, von dem sie einen Ohrwurm hatte.

Draußen grummelte leise der Donner, als Chloe den Satz ein letztes Mal abspielte. Sie hielt das Aufnahmegerät mit beiden Händen fest, fast so als würde sie erwarten, dass es zum Leben erwachte und sie bereit wäre es in diesem Moment zu erdrosseln. Sie spielte dieselben sechzehn Sekunden erneut ab und versuchte sich vorzustellen, was Danielle in diesem alten, verlassenen Warenlager durchgemacht haben musste.

Sie war auf eine merkwürdige Art und Weise stolz auf ihre Schwester, aber auch etwas verstört davon, wie weit sie gegangen war, um dieses Geständnis zu bekommen.

Chloe schaltete das Aufnahmegerät aus und legte es auf ihren Couchtisch. Einen Moment lang saß sie in Stille und versucht sich an den gegenwärtigen Stand ihres Lebens zu gewöhnen. Es war nicht das erste Mal, dass sie das tat. Es gab viel aufzunehmen, viel zu verarbeiten.

Fünf Tage war es her, dass sie und Danielle ihren Vater in dem nicht weiter bemerkenswerten Fleckchen Wald in Texas begraben hatten. Sie hatten ihn tief genug vergraben, und obwohl sie sich sicher war, dass sein Körper früher oder später von irgendwelchen Tieren entdeckt werden würde, würden bis dahin viele Jahre vergehen. Sollte es wirklich jemanden geben, der den neuerdings vermissten Aiden Fine suchte, so nahm sie an, konnte man ihn dort draußen schon finden. Doch man müsste schon sehr gut suchen.

Das war jedoch das Schöne daran. Niemand würde nach ihm suchen. Es gab niemanden, der sich darum scherte, dass er verschwunden war. Niemanden.

AuГџerdem, soweit die Polizei wusste, war Aiden Fine auf der Flucht, mittlerweile wahrscheinlich irgendwo in Mexiko.

Die Lüge war simpel und doch komplex gewesen. Und weil die Schwestern dieselbe Geschichte erzählt hatten – ganz zu schweigen, dass eine von ihnen eine FBI Agentin war, die sich zumindest einmal zu ihrem entfremdeten Vater geäußert hatte – hatte niemand ihre Story wirklich hinterfragt. Stattdessen fand derzeit eine staatsweite Fahndung nach Aiden Fine statt.

Das war das Einzige, was Chloe wirklich Gewissensbisse bereitete. Sie wusste, dass das FBI Ressourcen verschwendete, um ihn zu finden. Doch sie wusste auch, dass in ungefähr zwei Wochen, wenn die Spur sich als kalt herausstellen würde, die Ermittlungen an Dynamik verlieren würden, bis der Fall eventuell nur noch als vergessen und hoffnungslos in die hintersten Unmengen von Gigabytes an Akten zurückgeschoben werden würde.

Aiden Fine hatte seine Tochter entführt. Es hatte damit begonnen, dass er sie zum Abendessen zu sich einlud. Die Gemüter erhitzen sich, es gab einen kurzen Streit und Aiden benutzte Danielles Auto, um sie in irgendein Kaff in Texas zu verschleppen. Er hatte sie dorthin gebracht, weil er wusste, dass es ein Ort war, aus dem sie einst versucht hatte zu entkommen. Danielle zu Folge hatte er gesagt, dass es eine Art und Weise gewesen war, ihren Willen zu brechen, sie wissen zu lassen, dass selbst als sie vor ihren Dämonen hatte fliehen wollen, er gewusst hatte, wo sie war.

Obwohl das FBI ihre Story geschluckt hatte, hatte Chloe trotzdem eine Verwarnung bekommen. Sie hatte sich schließlich, als sie ihre Schwester rettete, in eine gefährliche Situation begeben. Soweit sie jedoch wussten, hatte Aiden es geschafft ihr und Danielle zu entkommen und zu fliehen.

Chloe schaute auf das Aufnahmegerät und konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob sie die Sache falsch angegangen waren. Die Polizisten und das FBI hatten das Aufnahmegerät natürlich nicht gesehen. Nein, das hatte Chloe mitgenommen und es hatte hier und da ein paar kleine Bemerkungen von Danielles Seite gegeben, die die wahre Geschichte erzählten – dass es sie gewesen war, die ihn entführt hatte.

Trotzdem, sie hatten ein Geständnis. Es wäre genug gewesen, um ihn wegzusperren. Und dann hätten sie die Geschichte so hinbiegen können, dass es ausgesehen hätte, als hätte er versucht Danielle zu ermorden und sie somit dazu gezwungen hätte ihn aus Selbstverteidigung zu töten. Sicher, auf diese Weise hätte es ein paar mehr lose Enden gegeben, doch es hätte auch bedeutet, dass sie dem FBI, für das sie arbeitete, weitaus weniger Lügen erzählen müsste.

Im Endeffekt machte es keinen Unterschied, dachte sie sich. Unabhängig davon, welche Geschichte sie aufgetischt hätten, die wichtigste aller Fragen konnte damit nicht beantwortet werden.

Ihre Schwester hatte ihren gemeinsamen Vater umgebracht. Und wenn es dazu gekommen wäre, hätte auch Chloe ihn umgebracht, wenn es für Danielles Rettung notwendig gewesen wäre. Das warf also die Frage auf: trugen sie beide dieselbe Finsternis in sich, wie ihr Vater?

Und jetzt, wo sie sich zusammengetan hatten, um so eine SГјnde zu verbergen, hatte diese Finsternis noch mehr Macht Гјber sie?


***

Chloe war zu den Geräuschen des Gewitters eingeschlafen, ausgestreckt auf ihrer Couch. Als ihr Wecker am nächsten Morgen aus ihrem Schlafzimmer ertönte, setzte sie sich mit Schmerzen im Rücken auf, die das Resultat ihres unbequemen Schlafplatzes waren. Sie ging in ihr Schlafzimmer, streckte sich und knallte auf den Alarmknopf des Weckers, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Sie schaute sich in ihrem Schlafzimmer um und begriff, dass sie die letzten fünf Tage in einer Art Stupor verbracht hatte. Sie musste aufräumen. Sie musste Wäsche waschen. Sie musste eine anständige Mahlzeit zu sich nehmen, statt Fertiggerichte aus der Mikrowelle.

Sie fragte sich, ob sie bei der Arbeit anrufen und sich einen Tag freinehmen konnte. Sie war sich sicher, dass Direktor Johnson durchschauen wГјrde, dass sie nicht wirklich krank war, aber gegeben, was sie und ihre Schwester durchgemacht hatten, dachte sie, dass er es vielleicht durchgehen lassen wГјrde. Sie nahm eine schnelle, heiГџe Dusche, um ihren RГјcken zu lockern, in der Hoffnung, dass es ihr helfen wГјrde aus dem Tief, in dem sie die letzten Tage gewesen war, rauszukommen. Es half ein wenig, obwohl sie die Idee ein oder zwei Tage frei zu nehmen immer noch gut fand, als sie sich abtrocknete und anzog.

Sie war gerade dabei ihr Handy zu nehmen und den Anruf zu tätigen, doch das Gerät klingelte, bevor sie es in der Hand hatte.

Als sie sah, dass der Anruf vom FBI Hauptquartier kam, verzog sie die Miene. Soviel zu einem freien Tag, nehme ich an…

Sie nahm den Anruf entgegen und hörte Johnsons Sekretärin ein kurzes Guten Morgen sagen, bevor sie den Anruf an Johnsons Büroapparat weiterleitete.

„Agentin Fine, habe ich Sie erwischt, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machen konnten?“, fragte Johnson.

„Ja, Sir.“

„Gut. Ich brauche Sie so schnell wie möglich in meinem Büro. Wir müssen eine Einsatzeinweisung machen, wenn Sie in der Lage dazu sind.“

Ehrlichgesagt war sie sich nicht sicher, ob sie in der Lage dazu war oder nicht. Was sie aber genau wusste war, dass wenn sie ein paar weitere Tage in ihrer Wohnung rumsitzen und alles was sie und Danielle getan und erfunden hatten hinterfragen wГјrde, sie beginnen wГјrde ein bisschen verrГјckt zu werden. Sie spielte erneut mit dem Gedanken, die Besprechung abzublasen und sich krank zu melden, doch nur fГјr einen kurzen Moment. Es gab einen potentiellen neuen Fall dort drauГџen. NatГјrlich wГјrde sie ihn Гјbernehmen.

„Klingt gut“, sagte sie, immer noch unschlüssig darüber, ob das stimmte oder nicht. „Ich bin in einer halben Stunde da.“

Sie zog sich hastig an und verschlang dann ein schnelles Frühstück, bestehend aus Frühstücksflocken und Toast, bevor sie die Wohnung verließ. Selbst das zu tun, war eine angenehme Abwechslung. Routine war eine großartige Möglichkeit zurück in den Alltag zu finden. Obwohl sich nur die letzten fünf Tage so düster angefühlt hatten, waren es fünf Tage gewesen, die sie mental und emotional ausgelaugt hatten. Ja, sie war zur Arbeit gegangen, doch jedes Mal, wenn sie dort ankam, fühlte sie sich wie eine hirnlose Drohne, ihr Kopf gefüllt mit einer Million anderer Dinge.

Doch nun, wo sie zur Arbeit ging, um die Details zu einem potentiellen Fall zu erfahren, fühle es sich anders an. Zum ersten Mal seit sie Texas verlassen hatte, hatte sie das Gefühl, dass sie in der Lage sein könnte, alles was geschehen war langsam hinter sich zu lassen.

Als sie auf der Arbeit ankam, verschwendete sie keine Zeit. Sie machte sich direkt auf zu Johnsons Büro, gespannt was für einen Fall er für sie haben könnte. Aus irgendeinem Grund hatte sie irgendwie den Ruf bekommen, die Agentin zu sein, die die zwielichtigen Fälle der Vorstädte knackte, solche, in die reiche und verwöhnte Erwachsene verwickelt waren, die viel zu viel Zeit ihres Lebens darauf verschwendeten, Geheimnisse voreinander zu verbergen.

Scheint so, als wГјrde ich gut in einige dieser Nachbarschaften reinpassen, dachte sie. Denn, so sehr ich es auch leugnen mag, jetzt habe ich selbst Geheimnisse, denen ich nie entkommen kann.

Als sie in Johnsons Büro eintraf, steuerte sie direkt den Stuhl vor seinem Schreibtisch an, auf dem sie normalerweise saß. Doch dann sah sie, dass er sich gar nicht hinter seinem Schreibtisch befand. Stattdessen saß er an dem kleinen Konferenztisch im hinteren Teil seines Büros. Und er war nicht alleine. Ein weiterer Mann und eine Frau saßen dort mit ihm. Sie hatte den Mann bereits zuvor gesehen; sein Name war Beau Craddock und er war ziemlich weit oben in der FBI Hierarchie – auf jeden Fall über Direktor Johnson. Die Frau hatte sie vorher nie gesehen, doch da sie in Craddocks Begleitung war, nahm Chloe an, dass sie auch ziemlich weit oben in der Nahrungskette stand.

„Agentin Fine“, sagte Johnson. „Bitte, setzen Sie sich.”

“Okay…”

Es gab nur noch einen weiteren Stuhl am Tisch, direkt am Kopfende. Sie nahm ihn ein und nickte jedem der Anwesenden höflich zu.

„Agentin Fine, lassen Sie mich Ihnen Stellvertretenden Direktor Craddock und Sonderberaterin des Direktors, Sarah Kirsch, vorstellen.“

Craddock und Kirsch sagten nichts. Kirsch zwang sich jedoch zu einem ziemlich falschen Lächeln.

„Wir würden gerne die zeitliche Abfolge der Ereignisse hören, die passiert sind, als sie in Texas waren, um ihre Schwester zu suchen“, sagte Craddock.

Ein kalter Knoten des Grauens bildete sich in Choles Magengrube. Sie schaute Johnson direkt in die Augen, verwirrt. „Sir, ich habe das bereits zwei separate Male geschildert – einmal vor Ihnen und einmal vor der Polizei. Ist das wirklich nötig?“

„Ehrlichgesagt, wahrscheinlich nicht“, sagte Kirsch bevor Johnson antworten konnte. „Doch so wie die Dinge stehen, ist es nun mal so, dass Sie an dem Ort aufgekreuzt sind, an dem ein Mann der gegenwärtig wegen Entführung und Missbrauch gesucht wird, sein Opfer festhielt. Also ja, Ihre Aussage ist es wert gehört zu werden.“

Johnson gab ihr ein Schulterzucken und einen Blick von was willst du machen. „Sorry, Fine, aber die Tatsache, dass Sie mit der Entführten und dem Entführer in naher Verwandtschaft stehen, befreit Sie nicht aus der Verantwortung. Die Situation hat offensichtlich die Aufmerksamkeit höherer Instanzen auf sich gezogen. Aber, wie ich ihnen bereits gesagt habe, alles sieht soweit sauber aus. Nichts Dubioses geht hier vor sich. Sie wollen es bloß einmal selbst hören.“

Dass ich nicht lache, nichts Dubioses, dachte Chloe. Wenn es nichts Dubioses gäbe, hättest du mir Bescheid gesagt, als du heute morgen angerufen hast. Stattdessen hast du mich reingelegt. Du versuchst mich zu überführen, du Bastard.

Doch was konnte sie machen?

Sie lehnte sich im Stuhl zurück mit dem Gefühl, dass sie gerade freiwillig ihren Fuß in einer Bärenfalle gesteckt hatte.




KAPITEL ZWEI


Craddock begann die Vernehmung. Als er das tat, hatte er ein kleines Lächeln im Gesicht. Sie war sich sicher, dass es dazu dienen sollte sie zu entspannen, doch es erweckte eher den Eindruck, dass er es genoss sie dieser Tortur zu unterziehen.

„Agentin Fine, woher wussten Sie, wo Ihre Schwester war?“

Die Wahrheit war natürlich, dass Danielle sie von einem Münztelefon angerufen hatte. Doch die Wahrheit würde für sie beide verhängnisvoll sein. Sie besann sich auf die Geschichte, die sie erfunden hatten, als sie die Leiche ihres Vaters vergruben und gab diese wieder.

„Ehrlichgesagt war es beinahe ein glücklicher Zufallstreffer. Als ich begriffen hatte, dass etwas los war, habe ich begonnen an Orte zu denken, zu denen mein Vater sie hätte bringen können. Danielle lebte einst in Millseed – während einer Zeit in ihrem Leben, zu der sie unserem Vater gegenüber einmal verbal konfrontativ gewesen war. Sie hatte mir immer wieder mal erzählt, dass das eine Mal, als sie mit ihm gesprochen hatte – während eines Besuches, um ihn im Gefängnis zu sehen – er ihr gesagt hatte, dass sie an einen Ort wie Millseed gehörte. Ein erbärmliches Städtchen, dass austrocknete und ausstarb. Er hatte gesagt, dass es ein schrecklicher Ort zum Sterben wäre, doch vielleicht genau was sie verdiente.“

„War ihr Vater immer schon so dramatisch und gut darin, die Zukunft zu prophezeien?“, fragte Kirsch.

„Vergeben Sie mir, wenn ich den Charakter meines Vaters nicht mit Ihnen besprechen möchte“, sagte Chloe. „Geht es hier um das Profil meines Vaters oder darum mich erneut zu allem, was vorgefallen ist, zu befragen?“

Craddock und Kirsch tauschten verstörte Blicke aus, bevor sie fortfuhren. Johnson starrte sie an, während sein Gesichtsausdruck eine einfache Botschaft transportierte: Vergreif dich nicht im Ton.

„Können Sie uns genau erzählen, was passiert ist, als sie dort angekommen sind?“, fragte Kirsch.

„Der Ort war einfach zu finden“, sagte Chloe. „Danielle hatte mir Geschichten erzählt von einigen der nicht-so-legalen Aktivitäten, die sie und einige Freunde dort in diesem alten Warenlager getrieben haben. Ich musste nur in einem Laden halten und fragen, wie ich dort hinkomme. Als ich dort ankam, hatte er sie an einen Stuhl gefesselt und ohrfeigte sie. Ich konfrontierte ihn, wir kämpften ein bisschen, dann gelang es ihm zu entkommen.“

„Definieren Sie kämpften, sagte Craddock.

„Das Gebrauchen von Fäusten, um einander zu schlagen. Manchmal Treten. Der Versuch, seinen Gegner mit physischer Kraft zu übermannen.“

„Agentin Fine“, sagte Kirsch. „Ich empfehle Ihnen diese Befragung ernst zu nehmen.“

„Oh, das tue ich. Und die anderen zwei Mal, an denen ich ausführlich befragt wurde, habe ich es auch ernst genommen.“ Sie hielt hier einen Moment inne und atmete schwer, während sie versuchte sich unter Kontrolle halten. „Schauen Sie. Ich verstehe die Notwendigkeit alles genau nachzuvollziehen und ich akzeptiere vollkommen meine Schuld daran, versucht zu haben die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Aber Sie müssen verstehen… das ist nicht einfach irgendein Fall. Hier geht es um meine Schwester und meinen Vater und die ganze abscheuliche Familiengeschichte zwischen uns allen. Ich genieße es nicht besonders, immer und immer wieder in diese Mangel genommen zu werden.“

Ihr kleiner Appell hatte wohl funktioniert – zumindest ein Stück weit. Craddock und Kirsch tauschten traurige Blicke untereinander aus. Dann schauten sie zu Johnson, der leicht mit den Schultern zuckte.

„Natürlich versuchen wir das zu bedenken“, sagte Craddock. Dann, so als würde er jedes Wort sehr vorsichtig wählen, fragte er: „Denken Sie, dass Sie ihn während des Kampfes verletzt haben?“

Also war ihr Appell vielleicht doch nicht so effektiv gewesen, wie sie gedacht hatte. Wütend fuhr sie fort und beantwortete die Frage. Sie log und sagte, dass sie dachte, sie hatte ihm womöglich eine Rippe angeknackst oder gebrochen. Es war ein überflüssiges und unnützes Detail, aber sie wusste, dass man in dieser Art Verhör genau nach solchen Details Ausschau hielt.

Als sie mit der Befragung fortfuhren, wurde ihr klar, was genau sie hier taten. Sie brachten sie dazu, immer und immer wieder die Geschichte zu erzählen, immer wieder von einem anderen Standpunkt aus, und beobachteten, ob sie irgendetwas an ihren Aussagen veränderte. Sie versuchten sie zu ertappen… sie wusste nur nicht genau, warum.

Vielleicht haben sie etwas gefunden, was die Geschichte zum Einstürzen bringt, dachte sie. Doch das bezweifelte sie. Wenn das der Fall wäre, wären die Fragen viel direkter und sie hätten ihr womöglich sogar schon etwas vorgeworfen.

Aber nein… stattdessen suchten sie nach Löchern in ihrer Erzählung. Und Chloe hatte nicht vor, ihnen das zu geben.

Doch sie fragte sich, wie dieses Szenario wohl ablaufen würde, wenn Danielle an ihrer Stelle hier sitzen würde. Wenn sie Danielle vorladen würden und sie ein drittes Mal die Geschichte aufsagen ließen – in einem offizielleren Rahmen mit all diesen Wichtigtuern um sie herum – würde sie zusammenbrechen?

Es machte Chloe Angst darüber nachzudenken. Also gab sie ihr Bestes, es nicht zu tun, während sie ihre Wut herunterschluckte und weiter ihre Fragen beantwortete, wie ein liebes, kleines Mädchen.


***

Es ging schneller, als sie erwartet hatte, als sie Platz genommen hatte. Craddock und Kirsch gingen fünfzehn Minuten später. Als sie weg waren, blickte Johnson sie über den Tisch hinweg an. Chloe war gespannt, ob er den sympathisierenden guten Kerl spielen würde, oder ob er sich auf die Seite des Machtduos, das soeben sein Büro verlassen hatte, schlagen würde.

„Tut mir leid, dass Sie das erneut durchmachen mussten“, sagte er.

„Wirklich? Sie schienen sehr gut mit den beiden zu harmonieren.“

„Fine… Ich verstehe, dass Sie unter einer unglaublichen Menge emotionalen Drucks stehen, aber ich muss Sie trotzdem auf Ihren Ton und Ihre Einstellung hinweisen. Ich versuche so verständnisvoll wie möglich zu sein, aber ich werde auf jeden Fall einen Bericht über Ihre Insubordination erstellen, wenn Sie mich und ihre anderen Vorgesetzen weiterhin auf diese unverschämte Art und Weise ansprechen.“

Sie schluckte ihre Wut und ihren Stolz wieder hinunter und nickte. „Ich verstehe. Kann ich nun gehen?“

„Ja. Sie werden auf Ihrem Schreibtisch ihre Aufgaben vorfinden. Abhörprotokolle und eine Rechercheanfrage eines Feldagenten in Philadelphia, glaube ich.“

„Soll das ein Witz sein?“

Sie verließ sein Büro, bevor er die Möglichkeit hatte eine Antwort oder Erklärung zu liefern. Obwohl sie sich sicherlich nicht über trivialen Schreitischaufgaben stehen sah, die viele Agenten Woche für Woche ausführen mussten, erschien es ihr trotzdem wie ein Rückschritt. Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob es eine Art Strafe sein sollte – und wenn ja, so fragte sie sich, wie lange das andauern würde.

Normalerweise war sie jemand, die ihre Emotionen für sich behielt, doch gerade musste Chloe damit kämpfen ihre Wut unter Kontrolle zu behalten. Sie nahm sich Zeit zu ihrer Arbeitsnische zurückzukehren, da sie wusste, dass ihre Wut nur weiter ansteigen würde, wenn sie die dämlichen Aufgaben zu Gesicht bekam, die Johnson für sie vorbereitet hatte.

Sie war so in ihrem eigenen emotionalen Chaos verschlungen, dass sie beinahe das bekannte Gesicht der Person übersah, die aus einem Büro am Ende des Korridors hinaustrat. Es war Rhodes, ihren Blick nach unten gerichtet, während sie etwas auf ihrem Handy durchblätterte. Als sie aufsah und Chloe bemerkte, sah sie zuerst alarmiert und dann erleichtert aus.

„Alles gut?“, fragte Rhodes.

„Ja. Aber du hast mich gestern gesehen. Wieso fragst du jetzt?“

„Es spricht sich rum“, sagte Rhodes. „Ich habe gehört, du wurdest heute zu Johnson einbestellt. Ich habe auch gehört, dass Direktor Craddock da war. Ich habe mir gedacht, dass du für irgendwas abgekanzelt wirst.“

„Nein, nicht wirklich. Es ist bloß…sie wollen diese Geschichte mit meiner Schwester und meinem Vater wieder hervorholen und ich bin einfach fertig damit.“

Rhodes schaute in alle Richtungen über den Flur, so als wollte sie sichergehen, dass sich niemand in Hörweite befand. „Ich frage mich, ob sie sehen wollen, ob es dich emotional mitgenommen hat… vielleicht wollen sie sehen, ob du in der Lage bist nach so einem persönlichen und traumatischen Ereignis zu arbeiten.“

„Das bezweifele ich.“

„Ich weiß nicht. Es würde erklären, wieso ich soeben einen Fall bekommen habe ohne dich als Partnerin. Ich weiß, dass wir noch nicht zu offiziellen Partnerinnen gemacht wurden, aber der Fall sieht so aus, als würde er genau auf dein Profil passen.“

„Was? Wann hast du den Fall bekommen?“

„Vor einer halben Stunde. Ich mache gerade Reisepläne. Der Grund, den ich bekommen habe war, dass Johnson sich nicht sicher ist, ob du der Aufgabe gewachsen seist. Er meint du bräuchtest womöglich etwas Zeit, um dich zu erholen.“

Chloe grinste, aber nur weil es einfacher war, als einen zornigen Aufschrei zu unterdrücken. „Ich bin in bester Ordnung. Anscheinend ist seine Auffassung von Erholung, Abhörmaterial durchzugehen und in der Rechercheabteilung auszuhelfen.“

„Du armes Ding“, sagte Rhodes. „Wenn du willst, kann ich darauf drängen, dass du dazukommen sollst.“

„Das weiß ich zu schätzen“, sagte Chloe, „aber ich denke, dass ich das selbst tun werde.“

Rhodes nickte, doch es war klar, dass es ihr nicht gefiel, wie sich die Dinge entwickelten. „Besteh aber nicht zu sehr darauf. Ich würde nicht wollen, dass du Probleme bekommst oder so.“

„Das werde ich nicht.“

Sie war gerade dabei kehrt zu machen und direkt zurГјck zu Johnsons BГјro zu marschieren, doch dann fiel ihr etwas auf. Es sah Rhodes Гјberhaupt nicht Г¤hnlich, diese Art von FГјrsorge zu zeigen. Die Phrase Ich wГјrde nicht wollen, dass du Probleme bekommst oder so sah ihr Гјberhaupt nicht Г¤hnlich.

„Rhodes… hast du irgendetwas gehört? Über mich und meine Schwester?“

„Nichts, was nicht jedermann bereits gehört hätte. Es ist irgendwie rausgekommen, dass du drüben in Texas warst und irgendeine Konfrontation mit deinem Vater hattest. Die meisten hier finden, dass es sehr mutig von dir war. Ich glaube, Johnson denkt das wahrscheinlich auch… er hat bloß seine Vorgesetzten, die ihm über die Schulter schauen.“

Chloe war sich nicht ganz sicher wieso, aber sie glaubte ihr nicht. Sie hatte das GefГјhl, dass sie Rhodes immer besser kannte, und es gab etwas an der Art, wie diese ihre Frage beantwortet hatte, die Chloe suspekt vorkam. Trotzdem, wenn sie diesen Fall Гјbernehmen und mit ihrem Leben wie bisher weitermachen wollte, musste sie es erstmal dabei belassen.

Sie ging zurГјck zu Johnsons BГјro und traf ihn auf dem Gang, als er sich auf dem Weg nach irgendwo anders befand.

„Also, ich habe mit Rhodes gesprochen“, sagte sie. „Wieso habe ich nicht die Gelegenheit bekommen an diesem neuen Fall mit ihr zusammenzuarbeiten?“

„Nicht, dass ich Ihnen eine Antwort schulde, aber ich war mir nicht sicher, ob Sie in der Verfassung sind, wieder da rauszugehen, wenn man bedenkt, was Sie alles durchgemacht haben.“

„Ich schätze das, Sir. Aber, selbst wenn mein Einsatz sonst nichts bringt, denke ich, dass es tatsächlich eher hilfreich für mich sein würde.“

Er grinste sie an und sie war sich nicht sicher, ob es Abscheu oder Gutwillen ausdrücken sollte. „Würde es Ihnen helfen, diese insubordinierte Einstellung abzulegen, die sie jetzt haben?“

„Das kann ich nicht versprechen”, sagte sie. Sie hatte es als Witz gemeint, in der Hoffnung, dass es ihn erweichen würde.

„Sie wird in ein paar Stunden abreisen. Können Sie alles einfach so stehen und liegen lassen und mitfahren?“

„Ja, Sir.“

Johnson dachte einen Moment lang darüber nach und seufzte. „Der Fall scheint tatsächlich genau ihr Ding zu sein.“ Dann zuckte er besiegt mit den Schultern und sagte: „Okay. Sprechen Sie mit Rhodes und lassen Sie sich alle Einzelheiten geben. Sie sind offiziell auf den Fall angesetzt, aber ich will, dass sie verantwortlich vorgehen. Wenn Sie da draußen merken, dass sie noch nicht soweit sind, müssen Sie mit mir ehrlich sein.“

„Natürlich. Und danke, Sir.“

Sie machte abrupt kehrt und ging zurГјck zu Rhodes BГјro, bevor er Zeit hatte, seine Meinung zu Г¤ndern.




KAPITEL DREI


Danielle ging mit den Nachwirkungen von Millseed, Texas ungefähr genauso gut um, wie sie erwartet hätte. Weil Danielle es immer bevorzugt hatte in ihrer Einsamkeit zu versumpfen, statt tatsächlich proaktiv zu handeln, hatte sie die fünf Tage seit ihrer Heimkehr damit verbracht, in ihrer Wohnung rumzusitzen. Das Einzige, was sie getan hatte, um sich besser zu fühlen, war wegen ihrer Verletzungen einen Arzt aufzusuchen. Sie hatte eine leichte Gehirnerschütterung erlitten und hatte ihr Fußgelenk während des Kampfes mit ihrem Vater leicht gezerrt, sonst nichts.

Trotzdem schmerzte ihr ganzer Körper. Sie hatte irgendwo etwas darüber gelesen, dass der Körper sich erinnerte – dass, selbst wenn keine physischen Verletzungen vorlagen, die Muskeln und Nervenenden den Druck eines gewissen Ortes und eines gewissen Momentes speicherten und ihn wieder an die Oberfläche bringen konnten.

Anscheinend tat ihr Körper genau das.

Auch musste sie den Umstand verarbeiten, dass sie keinerlei Reue verspürte. Sie war froh, dass der Mistkerl tot war – sogar froh, dass sie dabei Hand angelegt hatte. Wenn sie an die körperlich harte Aufgabe der Aushebung seines Grabes und des darauffolgenden Vergrabens seiner Leiche zurückdachte, war sie mit Erleichterung und Stolz erfüllt, ohne jedwede Trauer.

Das waren alles Dinge, die sie Chloe niemals sagen würde. Ihr war sehr klar, dass Chloe immer schon gedacht hatte, sie wäre etwas entrückt. Obwohl es schwer war, Chloes Einstellung, was das anging, einzuordnen. Manchmal wurde das Thema als passive komische Deeskalation einer Situation genutzt, doch bei anderen Malen hatte sie das Gefühl, dass Chloe sie dafür fast schon von oben herab betrachtete.

Ehrlichgesagt wollte Danielle einfach zurückkehren zu ihrem Leben – zurück zur Arbeit, zurück zum so tun, als würde ihr Vater nicht existieren. Sie fand immer noch, dass es unfair von ihm gewesen war, wieder aufzutauchen, nachdem sie so einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht hatte, so zu tun, als hätte er nie existiert.

Nun, am fünften Tag nach allem, was in Millseed vorgefallen war, saß Danielle auf ihrer Couch und versuchte zu entscheiden, was sie auf Netflix schauen sollte. Sie wusste, dass sie sich duschen sollte, wusste, dass sie in der Arbeit anrufen musste, um zu sehen, wann sie wieder Schichten zugeteilt bekommen würde. Doch sie wusste, dass sobald sie das tat, ihr Leben tatsächlich wieder weitergehen würde. Und auch wenn es ein Cliché zu sein schien, wusste sie, dass nun, wo ihr Vater tot war, ein neues Kapitel ihres Lebens beginnen würde, sobald sie es schaffte ihren Arsch von der Couch zu heben.

Als hätte es ihre Gedanken über die Notwendigkeit zur Handlung gelesen, begann ihr Handy auf dem Sofatisch zu klingeln. Sie griff danach und sah überrascht, dass es Chloe war. Seitdem sie aus Texas zurückgekehrt waren, hatten sie nur einmal gesprochen. Es sah Chloe nicht ähnlich sich nach so einem monumentalen Ereignis zu distanzieren, doch Danielle hatte angenommen, dass sie ihre Gründe dafür hatte. Die Lügen, die sie konstruiert hatten, waren so komplex und zahlreich, dass sie wahrscheinlich dachte, es wäre besser eine Weile lang nicht so viel zu kommunizieren.

Wieso ruft sie nun also an?

Neugierig beantwortete sie den Anruf. „Hey, Schwesterherz.“

„Hey, Danielle. Wie fühlst du dich?“

„Erholt und weitestgehend ok, glaube ich. Du?“

„Auch. Ich habe die letzten Tage aber nicht so gut geschlafen. Ich habe das Bedürfnis, wieder mit dem Leben weiterzumachen, weißt du?“

„Tatsächlich verstehe ich dich“, sagte Danielle. „Das mit dem Schlafen… hast du Albträume?“

„Nein. Bloß Angstzustände, glaube ich. Hör mal, D… auf der Arbeit ist gerade alles ein bisschen komisch und ich wollte dich vorwarnen. Ich wurde heute Morgen zu dem, was passiert ist, befragt. Dieses Mal war es aber nicht bloß mein Direktor. Er hat ein paar andere Leute von weiter oben eingeladen – die Art Leute, die nur involviert sind, wenn möglicherweise Probleme anstehen könnten.“

„Wie ist es gelaufen?“, fragte Danielle. Sie wusste wie vorsichtig ihre Schwester sein konnte. Sie dachte nicht, dass ihre Schwester unter dem Druck nachgegeben haben könnte, aber sie konnte sich nicht absolut sicher sein. Wenn eine von ihnen zusammenbrach oder sich verplapperte und ihre Geschichten nicht mehr übereinstimmten, würden sie beide ziemlich tief in der Scheiße stecken.

„Es war alles ok, aber ich mache mir Sorgen, dass sie dich auch einbestellen könnten.“

„Müsste ich nicht erst verhaftet werden, um so verhört zu werden?“

„Nein. An diesem Punkt wird es fast wie ein Gebot der Höflichkeit angesehen. Sie haben dich bereits befragt, also werden sie von dir erwarten, ihnen erneut den Gefallen zu tun.“

„Zum Teufel damit. Wieso würde ich das noch einmal durchmachen wollen?“

„Wenn sie dich kontaktieren, darfst du ihnen gegenüber keine solche Einstellung zeigen.“

Danielle rollte mit den Augen. „Also soll ich mich für die verrenken und es einfach über mich ergehen lassen, so oft, wie sie wollen?“

„Für eine Weile, ja. Aber bitte… Danielle, bitte halte dich an die Geschichte. Lass dich nicht von deinen Emotionen oder deinem Ärger leiten.“

„Ist das wirklich, wieso du angerufen hast?“, fragte Danielle.

„Ist es. Naja, das und auch weil ich weiß, wie du dazu tendierst in deinen Emotionen zu versacken, wenn das Leben schwer wird. Wie hältst du dich?“

„Ich stinke. Und mir sind die Serien auf Netflix ausgegangen. Ich überlege mir, morgen wieder zur Arbeit zu gehen.“

„Das klingt gut“, sagte Chloe. „Bitte rede nicht mit den Leuten, mit denen du arbeitest, darüber, was wir getan haben, okay?“

„Mein Gott, Chloe. Ich bin kein Idiot.“

„Ich weiß, es ist nur, ich – “

„Chloe, lassen wir das. Wie wär’s damit: du machst mit deinem Leben weiter und ich tue dasselbe. Lassen wir uns ein paar Wochen Zeit und schauen dann, wo wir stehen. Ich weiß, wie sowas geht. Wir haben etwas ziemlich Abgefucktes durchgemacht. Und egal, wie du es dir in deinem Kopf ausmalen magst, du und ich standen uns nie besonders nahe. Wir haben nicht eine dieser engen Schwesterbeziehungen, weißt du? Also brauchen wir einander vielleicht auch nicht, um das alles zu bewältigen.“

In der Mitte ihres Monologs hatte sie gespürt, dass sie zu viel gesagt hatte, aber es war bereits zu spät gewesen.

„Ja, vielleicht hast du recht“, sagte Chloe. Ihre Stimme klang schwach und ernüchtert. Danielle hatte eindeutig ihre Gefühle verletzt – ein Umstand, für den sie weder als Kind noch als erwachsene Frau jemals wirklich ein Gespür gehabt hatte.

„Chloe…“

„Ich finde, du solltest wieder zu deiner Arbeit zurückkehren“, unterbrach Chloe sie. „Nehm einfach dein Leben wieder auf, so wie es vor alle dem war. Und wenn das FBI oder die Cops was von dir wollen, ist das Einzige, worum ich dich bitte, ruhig zu bleiben. Nimm es nicht persönlich. Schließlich tun sie wirklich nur ihren Job.“

„Ja, ich weiß.“

„Hab dich lieb, Schwesterchen. Mach’s gut solange.“

Bevor Danielle antworten konnte, hatte Chloe aufgelegt. Danielle legte langsam ihr Handy weg, nicht ganz sicher, was sie so an der Art dieses Gesprächs gestört hatte. Sie war immer diejenige Schwester gewesen, die feindselige Diskussionen kalt gelassen hatten. Doch jetzt, wo sie fühlte, dass Chloe so genervt von ihr war, hatte sie das Gefühl, sie ließ ihre Schwester hängen.

Das ist, weil sie deinen Arsch vor einem dummen Fehler bewahrt hat, dachte sie.

Ja, sie hatte sich in den letzten paar Tagen mehrere Male gedacht, dass Chloe wahrscheinlich ihr Leben gerettet hatte. Und das würde die Richtung ihrer Beziehung von hier an verändern. Sie hatte sich noch nie wohlgefühlt bei dem Gedanken, dass sie irgendjemanden irgendetwas schuldete und nun war sie sich einfach nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte.

Abwesend begann sie erneut durch die Netflix Webseite zu scrollen. Sie schaute wieder auf ihr Handy und überlegte sich bei der Arbeit anzurufen. Vielleicht könnte sie sogar heute Abend noch eine Schicht übernehmen.

Chloe hatte schließlich recht. Früher oder später musste sie einfach weitermachen. Sie hatte nicht mehr den Schatten ihres Vaters über sich stehen, auf den sie alles schieben konnte. Nein, nun war der größere Fehler einer, zu dem sie stehen musste – das Wissen, dass sie eine große Rolle im Tod ihres Vaters gespielt hatte.

Ja, es würde ihr gesamtes Leben von nun an verändern, aber es war kein Grund das Handtuch zu schmeißen und alles aufzugeben. Doch was ihr am meisten Angst bereitete, war die sich aufdrängende Einsicht – jetzt wo ihr Vater nicht mehr da war – dass er womöglich doch nicht das einzige Problem in ihrem Leben gewesen war.




KAPITEL VIER


Chloe stürzte sich auf die Informationen in den Unterlagen zum Fall, sobald sie diese erhalten hatte. In dem Moment konnte sie es noch nicht sehen, aber sie wandte sich dem Fall auf dieselbe Art und Weise zu, wie ein Alkoholiker zur Flasche griff. Sie versuchte die Realität dessen, was sie und Danielle getan hatten, zu verdrängen. Sie hatte das Gefühl, dass wenn sie es unter ihrer Leidenschaft für die Arbeit begraben könnte, sie fähig wäre es nach einer gewissen Zeit ganz auszulöschen.

Die Reise, die ihnen bevorstand, führte in die ziemlich kleine Stadt Pine Point in Virginia. Sie lag um die fünfzehn Kilometer von Winchester entfernt und hatte eine Bevölkerung von weniger als zehn Tausend Menschen, die hauptsächlich aus reichen Familien bestand, was den Fall allen anderen Fällen ähneln ließ, an denen Chloe und Rhodes bisher gearbeitet hatten. Der Unterschied hier war allerdings, dass beide Opfer männlich waren. Soweit Chloe es den Polizeiberichten entnehmen konnte, gab es nichts Außergewöhnliches oder Einzigartiges an den Morden. Es schien, dass die Männer in beiden Fällen ziemlich brutal zu Tode geprügelt worden waren und dass sie auf den ersten Blick nichts miteinander verband.

„Na, schon müde von diesen Nobelnachbarschaften?“, fragte Rhodes von hinterm Steuer. Chloe, die die Berichte auf ihrem Tablet durchlas, schaute von deren Inhalten auf und hinaus aus dem Fenster. Seltsamerweise waren sie bereits angekommen. Pine Point war von DC nur ungefähr eineinhalb Fahrtstunden entfernt und diese waren schnell vergangen.

„So langsam“, gab Chloe zu. „Du musst aber zugeben… diese Vertrautheit ist schon ziemlich nett, oder?“

„Ja, ich nehme an, du hast recht. Aber die Berichte für diesen Fall…lassen mich denken, dass dieser hier am Ende darauf hinauslaufen wird, dass irgendein muskelprotzendes Arschloch seine Aggressionen an denen rauslässt, die seiner Meinung nach entweder unter ihm stehen oder eine Bedrohung für ihn darstellen.“

Daran hatte Chloe auch kurz gedacht, aber sie war sich nicht zu sicher. Jemand, der aus diesen Gründen mordete, hätte wahrscheinlich kein Problem damit eine Kugel durch den Schädel seiner Opfer zu jagen oder ihnen die Kehle aufzuschlitzen. Zwei verschiedene Male einen anderen Menschen brutal zu Tode zu prügeln schien auf etwas ein wenig Düstereres hinzudeuten.

Es mussten noch andere Sachen geklärt werden, aber ihr Gehirn war wie in einer Art Nebel. Es gab einige Fragen, die sie Rhodes stellen wollte – Fragen, die ihr helfen könnten zu verstehen, was Johnson und die anderen beim FBI tatsächlich dachten, wenn es um die Frage ging, womit sie ihrer Schwester wirklich geholfen hatte. Sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob sie mehr wussten, als sie zugaben, aber nicht genügend Beweise hatten, um sie tatsächlich zur Rede zu stellen. Was die größte Paranoia bei Chloe auslöste, ware aber die Tatsache, dass Johnson absolut bereit gewesen war Rhodes alleine auf diesem Fall anzusetzen.

„Kann ich dich etwas fragen, Rhodes?“, fragte sie.

„Natürlich.“

„Hast du irgendetwas von einer internen Ermittlung wegen meines Vorgehens in Verbindung mit meiner Schwester gehört?“

Sie versuchte Rhodes Reaktion abzupassen, aber ihre Partnerin verzog keine Miene. Nach einigen Sekunden schüttelte sie den Kopf: „Das glaube ich nicht. Ich weiß, dass es Fragen gegeben hat wegen deines Vaters und der Entführung deiner Schwester, aber ich habe nichts von einer internen Ermittlung gegen dich und deine Handlungen gehört.“ Sie zögerte einen Moment lang und zuckte dann mit den Schultern. „Wenn du dir Gedanken machst, wieso Johnson dich nicht sofort mit mir zusammen auf diesen Fall angesetzt hat, würde ich da nicht zu viel hineinlesen. Ich kann mir vorstellen, dass er einfach nur Rücksicht auf dein psychisches Wohlbefinden genommen hat.“

„Vielleicht.“

„Nun…lass mich dir eine Frage stellen“, sagte Rhodes. „Und bitte versteh das nicht falsch. Es bleibt nur unter uns beiden, aber ich muss es wissen. Gibt es etwas, das ich wissen sollte? Gibt es etwas zu ermitteln?“

„Nein“, sagte Chloe. Sie befürchtete, dass sie zu schnell und etwas zu aggressiv geantwortet hatte.

„Ich musste fragen“, sagte Rhodes. „Wir arbeiten zusammen und so. Ich kann nicht behaupten, dass ich verstehe, was du durchmachst, deshalb werde ich dich nicht bevormunden. Aber ich muss einfach nur wissen, dass du in der Lage bist zu arbeiten. Im Nachhinein hätte ich das wahrscheinlich fragen sollen, bevor du dich bereit erklärt hast mir bei dem Fall zu helfen, aber du weißt wie es läuft.“

„Ich bin in Ordnung.“

Das stimmte weitestgehend, doch nun konnte Chloe nicht anders, als sich zu fragen, ob sich hinter Rhodes Fragen ein anderweitiges Motiv verbarg. Hatte Johnson mit Rhodes gesprochen, bevor sie DC verlassen hatten und sie gebeten, Informationen aus Chloe herauszubekommen? Es sah Rhodes nicht ähnlich tiefgründige, persönliche Fragen zu stellen. Sie blieb normalerweise recht oberflächlich und tauchte nicht zu tief ein. Solch offenkundige Neugierde sah ihr nicht ganz ähnlich.

„Gut“, sagte Rhodes. „Und ich hoffe, dass du weißt, dass wenn du jemals darüber sprechen möchtest, um es zu verarbeiten oder so, dass ich eine gute Zuhörerin bin.“

„Danke“, sagte Chloe, obwohl die Bemerkung sie noch misstrauischer stimmte.

Die zwei Frauen wurden still, als das Navigationssystem auf Rhodes� Handy sie anwies in einem Kilometer abzubiegen. Hinter dieser Kurve lag ihr Ziel, der Tatort des zweiten Mordes.


***

Wie sie vor ihrer Abfahrt ausgemacht hatten, erwarteten sie dort zwei Polizisten aus dem örtlichen Präsidium. Ihr Wagen war am Straßenrand in ein paar Metern Entfernung von einer Kreuzung geparkt. Die eine Polizistin, eine sehr große, rothaarige Frau, lächelte ihnen zu und zeigte auf die Parklücke direkt hinter ihrem Dienstwagen. Rhodes parkte dort ein und sagte: „Die hier macht bereits den Eindruck, als würde sie andere gerne herumkommandieren.“

Chloe und Rhodes stiegen aus dem Auto und gingen zu den beiden Polizisten rüber. Die große Frau begrüßte sie zuerst, ihr Lächeln breit und auffällig schön. Der zweite Polizist war ein afro-amerikanischer Mann, um die vierzig Jahre alt. Er sah aus wie jemand, der genau wusste, dass er immer im Schatten seiner Partnerin arbeitete. Als er Chloe und Rhodes die Hand gab und sich als Officer Benson vorstellte, tat er dies mit einem missmutigen Lächeln.

Der Name der großen Rothaarigen war Anderson, und sie sprach mit einem kleinen südstaatlichen Akzent. „Gut, Sie kennenzulernen“, sagte sie und zog die Worte charakteristisch in die Länge, wie es die Bewohner des südlichen Teils der USA taten. Chloe fragte sich, ob sie die Art Mensch war, die den Ausdruck alle Mann verwendete.

„Also“, sagte Anderson, „es ist eine ziemlich einfache Angelegenheit. Ein Kerl namens Viktor Bjurman wurde letzten Abend hier am Straßenrand gefunden. Zwei Teenager auf Fahrrädern haben ihn entdeckt. Das Blut sprudelte immer noch aus ihm heraus. Er wurde sofort für tot erklärt, sobald der Krankenwagen hier angekommen war. Der letzte Bericht von heute morgen legt dar, dass es mehrere Ursachen gibt: stumpfe Gewalteinwirkung im Schädelbereich, eine gebrochene Rippe, die sich hochgeschoben hatte und sein Herz durchstach, ein beinahe komplett zertrümmerter Brustkorb und Brustbein, eine kollabierte Lunge. Suchen Sie sich was aus.“

„Irgendeine genaue Vorstellung davon, welche Waffe verwendet wurde?“, fragte Chloe.

„Alle nehmen an, dass es ein Schlagstock war“, sagte Anderson. „Der Gerichtsmediziner ist sich beinahe sicher, hat aber gesagt, dass wenn es ein Schläger war, so war der aus Aluminium. Bjurman wurde mit solch einer Kraft geschlagen, dass ein hölzerner Schläger Splitter hinterlassen hätte.“

„Gibt es irgendeine Verbindung zwischen Bjurman und dem ersten Opfer?“, fragte Rhodes.

„Keine, die wir finden konnten“, sagte Benson. „Das erste Opfer – ein Kerl namens Steven Fielding – wurde bei sich zuhause gefunden. Seine Frau entdeckte ihn ausgestreckt auf dem Wohnzimmerboden liegend.“

„Zunächst machte es den Eindruck eines schiefgegangenen Einbruchs“, sagte Anderson. „Jemand war eingebrochen, hat den Kerl vermöbelt, der zufällig zuhause war und ein paar Sachen mitgenommen. Doch bisher konnte die Ehefrau keinen einzigen Gegenstand benennen, der verschwunden wäre. Also sieht es danach aus, dass wenn es ein Einbruch gewesen ist, dann nur, um Fielding zu ermorden.“

„Die Berichte legen nahe, dass der erste Mord nicht so brutal gewesen ist, wie dieser zweite hier, richtig?“, fragte Chloe.

„Kommt drauf an, wie man Brutal definiert“, sagte Anderson. „Er wurde auf den Kopf und ins Gesicht mit etwas hartem geschlagen – mit etwas was möglicherweise auch ein Aluminiumschläger war. Fieldings Nase war bis zur Unerkennbarkeit zertrümmert. Das Ekeligste, was ich je gesehen habe.“

„Aber auf der anderen Seite“, sagte Benson, „wurde Bjurmans Gesicht offensichtlich gar nicht getroffen, obwohl es gleichzeitig einen starken Schlag auf den Hinterkopf gegeben hatte, der eine Delle hinterließ.“

Chloe ging ein paar Schritte vor und schaute zum Fleck auf dem Gehsteig, der offensichtlich Viktor Bjurmans Todesplatz gewesen war. Das getrocknete Blut war immer noch zu sehen, obwohl es offensichtlich war, dass die Stadtreinigung ihr Bestes getan hatte, um es zu beseitigen.

„Gibt es irgendetwas Besonderes an dieser Kreuzung?“, fragte sie.

„Überhaupt nicht“, sagte Benson. „Sie ist genau wie jede andere Ecke in dieser Stadt.“

Chloe ging zum Ende der Straße und schaute rechts um die Ecke. Wenn Bjurmann tatsächlich hier auf der Straße angegriffen worden war, musste der Angreifer sich hier versteckt haben. Das war ziemlich einfach, dachte sie. Es gab keine Ampeln, nur ein Stoppschild. Vor dem Schild stand jedoch eine riesige Eiche, die ihre Eicheln über den gesamten Boden verteilt hatte. Die Eiche war von verwelkenden Büschen umgeben. Aber auch ohne die Blätter gab es mehr als genug Gelegenheit, sich in der Hocke dahinter zu verstecken.

„In den Berichten steht, dass Bjurman eine Art Sporttrainer war“, sagte Chloe. „Wissen Sie welcher Art?“

„Ja, er war mehr so ein Fitness Coach und kein Trainer in dem Sinn“, sagte Anderson. „Hat drüben in einem privaten Fitnessstudio gearbeitet, hat aber auch Hausbesuche gemacht.“

„Was ist das für ein Fitnessclub?“

„Fulbright Fitness. So ein super teurer Schuppen, der Yoga, Schwitzkabinen und solche Sachen anbietet.“

„Und was ist mit Fielding?“, fragte Rhodes. „Was machte der beruflich?“

„Tagsüber – Autohändler, Bartender bei Nacht“, sagte Anderson.

Chloe gab ihr Bestes, sich nicht von ihren privaten Problemen ablenken zu lassen, aber bisher hatte sie Schwierigkeiten eine Verbindung zwischen den beiden Männern und der Art, wie sie ermordet worden waren, zu sehen. Für sie drängte sich der Schluss auf, dass es sich hier überhaupt nicht um eine Serie handelte. Doch selbst wenn das stimmte, blieb die Tatsache, dass hier zwei Männer auf brutale Art ermordet worden waren.

„Das erste Opfer wohne nicht hier in Pine Point, richtig?“, fragte Chloe.

„So gut wie“, sagte Benson. „Er lebte bloß einige Kilometer weiter draußen, in der Nähe von Winchester. Kleines Städtchen namens Colin.“

Ein weiteres Indiz gegen eine vermeintliche Serie, dachte Chloe.

„Hat irgendjemand bereits mit Bjurmans Ehefrau gesprochen?“, fragte Rhodes.

„Ja, das wäre ich“, sagte Anderson. „Komische Situation. Sie war natürlich sehr traurig, aber nicht so entsetzt, wie man es erwarten würde.“

„Irgendeine Idee, warum?“, fragte Chloe.

„Nichts, was sie mit mir geteilt hätte. Sie können gerne selbst mit ihr reden. Vielleicht können Sie mehr aus ihr rausbekommen, als ich es geschafft habe.“

Es schwang keine Verbitterung oder Verurteilung in dieser Aussage mit. Es schien, dass Anderson und Benson froh waren, dass das FBI gekommen war, um ihnen dieses Chaos abzunehmen. Die beiden standen untätig daneben, als Chloe und Rhodes ein paar Bilder vom Tatort machten, so als würden sie ungeduldig darauf warten, dass sich dieser Fall magisch in Luft auflöste.




KAPITEL FГњNF


Jenny Bjurman hatte augenscheinlich geweint, doch das konnte ihrer offenkundigen Schönheit wenig anhaben. Sie hatte eine zierliche Statur und die Art Figur, für die, wie Chloe annahm, die meisten Frauen bereit wären alles zu geben. Diese Figur war unter dem T-Shirt und der Leggings, die sie trug, als sie sie zu sich hineinbat, gut erkennbar. Es schien den Umständen entsprechend wie keine passende Kleiderwahl, doch Chloe nahm an, dass das die Art Kleidung war, die Jenny Bjurman zuhause trug, wenn sie nichts zu tun hatte. Ausgehend vom Äußeren der Frau fragte Chloe sich, wie attraktiv ihr Ehemann gewesen sein musste.

„Wir sind dankbar, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns zu sprechen“, sagte Chloe. „Wir wissen, dass die Polizei bereits mit ihnen gesprochen hat.“

„Es ist vollkommen in Ordnung“, sagte Jenny, während sie sich an ihren Küchentisch setzte und an einer Tasse Tee nippte. „Ich spreche mit jedem, der irgendwie helfen kann. Ich weiß nicht was ich sagen soll… was ich denken soll… ich weiß überhaupt… gar nichts mehr.“

„Vergeben Sie uns, wenn wir Sie Dinge fragen, die die Cops bereits gefragt haben“, sagte Rhodes. „Aber fällt Ihnen auch nur irgendjemand ein, der ihren Mann hätte tot wissen wollen?“

„Das ist genau die Sache“, sagte Jenny. „Alle liebten ihn. Ich weiß, wie abgedroschen das klingt, doch soweit ich weiß, stimmt es. Ich kann an keinen einzigen Wiedersachen denken, der er gehabt haben könnte.“

„Irgendjemand von der Arbeit?“, fragte Chloe. „Aus Fulbright Fitness, vielleicht?“

„Das bezweifele ich“, sagte sie. „Er hat mir normalerweise alles erzählt, was auf der Arbeit so passierte. Außerdem gingen alle seine Kurse in Fulbright über das Fitnessstudio, nicht über Viktor persönlich. Wenn es irgendwelche Beschwerden gegeben hätte, wären die direkt an das Fulbright Fitness Management gegangen.“

„Sie sagen, dass ihn alle geliebt haben. Kann ich also annehmen, dass er ein kontaktfreudiger Mann war?“

„Ja, sehr. Immer, wenn ein neues Geschäft eröffnete, bei jeder Gala, jeder offiziellen Veranstaltung war er mit dabei. Er war auch immer bereit jedem zu helfen. Er war die Art Mensch, der jemandem in der Not sein letztes Hemd geben würde.“

„Was ist mit den Hausbesuchen, die er machte?“, fragte Rhodes. „Kannten Sie jemanden von denen?“

„Ich kenne die meisten, ja. Viktor sagte mir immer Bescheid, wenn er einen neuen Klienten übernahm, denn die meisten von ihnen waren Frauen. Er war sehr offen und direkt, was das anging. Er wollte sicherstellen, dass ich Bescheid wusste, wann er bei einer anderen Frau zuhause sein würde. Ihre Ehemänner waren meistens auch dort, also war es keine große Sache.“

„Haben Sie eine Liste seiner Klientinnen?“

„Die habe ich nicht, aber wir haben eine gemeinsame Kontaktliste auf unseren Handys. Aber ich glaube, die Cops haben bereits mit den Leuten bei Fulbright Fitness gesprochen und eine Liste der Klienten mit Hausbesuchen bekommen.“

„Es wäre trotzdem hilfreich, wenn Sie uns die Namen und Nummern zur Verfügung stellen könnten“, sagte Chloe.

„Natürlich”, sagte Jenny. Als sie ihr Handy in die Hand nahm, das neben ihrer Teetasse gelegen hatte, fing sie leise an zu weinen. Sie starrte auf ihren Bildschirmhintergrund, ein Foto von ihr und einem Mann, von dem Chloe ausging, dass es ihr Ehemann war. Sie tippte ihre Pin ein und begann ihre Kontakte durchzugehen.

Sie gab ihnen nach und nach die Namen und Nummern von Viktors Klientinnen. Ihre Stimme brach bei jedem Mal ein bisschen mehr, während sie durch die Überbleibsel des Lebens ihres Mannes ging. Chloe begann inzwischen in Gedanken einige Verbindungen herzustellen, während Rhodes und sie die Liste der Kontakte mitschrieben. Beinahe alle Klienten, bei denen Viktor Hausbesuche machte, waren weiblich. Und wenn er genauso gutaussehend gewesen war, wie seine Frau, dann war sie sich ziemlich sicher, dass er sich ziemliche Mühe gegeben haben musste, um ihr treu zu bleiben.

Sie behielt das im Hinterkopf, während Jenny Bjurman weiter die Klientinnen aufzählte. Nach der siebten musste Jenny innehalten. Sie stieß das Handy gewaltsam von sich und brach auf dem Küchentisch zusammen, laut aufheulend.

Chloe hob das Handy langsam vom Boden auf und legte es zurück auf den Tisch. Als sie das tat, erhaschte sie einen Blick auf den Bildschirmhintergrund und erkannte, dass Viktor Bjurman tatsächlich ein sehr gutaussehender Mann gewesen war. Er und Jenny waren ein atemberaubendes Paar gewesen. Und obwohl sie ungerne so schnell zu diesem Schluss kam, musste Chloe sich fragen, wie ein so gutaussehender Mann in der Lage gewesen war bei so vielen Frauen ein- und auszugehen, ohne wenigstens einige Ehemänner zu verärgern.


***

Als Jenny wieder in der Lage war vernГјnftig zu sprechen, schaute sie durch Viktors Stundenplan und fand heraus, dass die letzte Klientin, bei der Viktor gewesen war, eine Frau namens Theresa Diaz war. Sie lebte in der Primrose Street, etwas weniger als einen Kilometer von dem Haus der Bjurmans entfernt.

Es war kurz nach Mittag, als Rhodes das Auto vor dem Haus der Diaz parkte. Es war ein hübsches kleines Haus, umgeben von Blumenbeeten. Die Doppelgarage stand offen, in der ein einziger SUV geparkt war. Die Agentinnen stiegen aus und Rhodes klingelte an der Tür. Es dauerte einige Momente, dann öffnete eine hübsche blonde Frau endlich die Tür. Auf eine gewisse Art war es beinahe wie ein Déjà Vu. Während sie Jenny Bjurman zumindest etwas ähnlich sah, gab es auch merkliche Unterschiede. Eine Sache, die beide Frauen gemeinsam hatten, war, dass sie beide geweint hatten – nur, dass Theresa Diaz ihr Bestes gegeben hatte, diese Tatsache zu verbergen.

„Hallo?“, fragte sie mit verwunderter Stimme.

„Mrs. Diaz, wir sind Agentinnen Fine und Rhodes vom FBI“, sagte Chloe. „Wir hofften, dass wir Ihnen einige Fragen über Viktor Bjurman stellen könnten. Ich nehme an, Sie haben gehört, was passiert ist?“

„Das habe ich. Und ja, kommen Sie rein.“

Theresa führte sie ins Innere des Hauses, welches klein, aber schön eingerichtet war. Leise Musik tönte von irgendwoher – ein sanftes, balladenartiges Lied, an das Chloe sich von vor ein paar Jahren erinnern konnte. Theresa führte sie in den Bereich, der als Wohnzimmer diente. Chloe würdigte still, dass es keinen Fernseher gab und dass alle Sessel einander zugewandt waren, was andeutete, dass die Diaz Familie sich mehr auf das Miteinander konzentrierte, als darauf, die derzeit angesagtesten und neusten Serien zu verfolgen.

„Wann haben Sie Mr. Bjurman zuletzt gesehen?“, fragte Rhodes.

„Gestern Abend. Er kam auf ein Pilates- und Bauchmuskeltraining vorbei.“

„Wann ist er gegangen?“, fragte Chloe.

„Ich erinnere mich nicht mehr an die genaue Zeit, aber das Training endete um 19 Uhr. Normalerweise ist er nach dem Training immer direkt aus der Tür. Daher würde ich sagen, nicht später als 19:05 Uhr oder so.“

„Bitte, verzeihen Sie, dass ich das frage“, sagte Chloe, „aber war ihr Ehemann zur Zeit des Trainings anwesend?“

„Nein.“ Sie hielt einen Moment inne, so als würde sie versuchen zu entscheiden, ob sie empört von der Anspielung in Chloes Frage sein sollte. Schließlich ignorierte sie diese und machte so gut es ging weiter. „Es ist zurzeit geschäftlich verreist. Er kommt erst in drei Tagen wieder. Aber mein Ehemann hatte Viktor kennengelernt und es gibt da nichts, woran man auch nur denken könnte.“

Sie war weder trotzig noch zornig. Ihr Ton war sogar sehr höflich. Trotzdem merkte Chloe, dass die Frau definitiv vor kurzer Zeit noch geweint hatte.

„Kannten Sie und Mr. Bjurman sich auch außerhalb Ihrer professionellen Bekanntschaft?“, fragte Rhodes. „Ich meine, würden Sie einander als Freunde bezeichnen?“

„Sicher. Wir lachten zusammen und alberten herum. Er blieb ab und zu sogar auf ein Glas Wein nach den Trainingseinheiten, aber nur wenn Mike – mein Ehemann – zuhause war.“

Chloe überlegte sich ihre nächste Frage genau. Theresa Diaz hatte ihren Mann in den letzten zwanzig Sekunden mehrere Male ganz explizit erwähnt. Sie hatte auch ihr Bestes gegeben, jegliche Anspielungen auf eine Affäre so höflich wie möglich zu unterbinden. Also wusste Chloe, dass es aus welchem Grund auch immer ein kitzliges Thema war. Daher war ihr auch klar, dass Theresa sie rausschmeißen würde, wenn sie das Thema weiter forcierte.

„Wie lange sind sie Mr. Bjurmans Klientin gewesen?“, fragte Chloe.

„Seit ungefähr einem Jahr. Er war sehr gut…“

Sie hielt inne, nahm sich etwas zusammen und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Es ist alles so unerwartet. Ich meine… ich habe ihn erst gestern Abend gesehen.“

„Es ist ok”, sagte Rhodes. “Da Sie einander ja von professioneller Seite her kannten, fällt Ihnen irgendjemand ein, der irgendetwas gegen ihn gehabt haben könnte?“

„Genau das ist es ja“, sagte Theresa. „Ich habe nie erlebt, dass er auch nur ein böses Wort zu irgendjemandem gesagt hätte. Und wenn wir schon dabei sind, habe ich auch nie gehört, dass irgendjemand schlecht von ihm gesprochen hätte.“

„Was hielt ihr Ehemann von ihm?“, fragte Rhodes. Chloe zuckte ein wenig zusammen und fragte sich, ob das die Frage sein würde, die ihren Rausschmiss bedeutete. Aber nein, Theresa nahm es gelassen oder übersah einfach das Spitzfindige an Rhodes� Frage.

„Mike kam gut mit ihm aus. Ich bin mal ganz ehrlich: ihm gefiel die Idee nicht, dass ein männlicher Trainer während seiner Abwesenheit zu uns nach Hause kommen würde. Doch als Mike Viktor kennenlernte, änderte sich das alles. Ich kann nicht deutlich genug sagen, wie charmant der Mann war. Jeder liebte ihn. Es macht überhaupt keinen Sinn für irgendjemanden, ihn zu ermorden.“

„Wissen Sie zufällig, ob er Klienten in der Stadt Colin hatte?“, fragte Chloe.

„Ich bin mir nicht sicher. Seine Ehefrau kann Ihnen das womöglich sagen.“

Mutig von ihr, Bjurmans Frau zu erwähnen, dachte Chloe. Hier liegt ganz sicher irgendeine Art Affäre vor, oder zumindest eine Anziehung.

„Machte Mr. Bjurman gestern Abend auch nur den geringsten Eindruck, dass er von etwas bekümmert oder besorgt war?“, fragte Chloe.

„Nein. Oder, wenn doch, dann hat er es sehr gut verbergen können. Ich… ich verstehe einfach nicht…“

Bisher schien das ein wiederkehrender Refrain zu sein. Und es belegte weiterhin, dass sie nichts Brauchbares von Theresa Diaz erfahren würden. Sie wusste, dass der nächste logische Schritt war, nach Colin zu fahren und zu sehen, was sie über den Mord von Steven Fielding herausbekommen konnten. Doch Chloe hatte das Gefühl, dass wenn sie das taten, sie die Spur des Mörders von Bjurman erkalten lassen würden, denn mit jedem Moment, der verstrich, wurde sie immer sicherer, dass die Morde miteinander nicht in Verbindung standen.

„Ich verstehe es einfach nicht“, sagte Theresa mit unsicherer Stimme und den Tränen nahe.

Dann sind wir schon mal zu zweit, dachte Chloe.




KAPITEL SECHS


“Also, die haben auf jeden Fall miteinander gevögelt, oder?“

Die Frage war direkt, auch wenn es genau die Frage war, die Chloe von Rhodes erwartet hatte, sobald sie wieder am Auto waren.

„Das ist der Eindruck, den ich bekommen habe“, sagte Chloe. „Du hast bemerkt, dass sie geweint hat, oder?“

„Ja, die roten und etwas geschwollenen Augen. Das leichte Zittern in ihrer Stimme.“

„Dann ist es klar, wieso sie die Affäre nicht zugeben wollte“, sagte Chloe. „Besonders, wenn es stimmt, was sie über ihren Mann und Bjurman gesagt hat. Macht Sinn, dass sie ihren Arsch retten will. Wenn der Mann, mit dem sie geschlafen hat, plötzlich tot ist, macht es die Aufgabe ihre Affäre zu verbergen sehr viel einfacher.“

„Trotzdem, ich finde wir sollten die Story überprüfen, dass ihr Mann angeblich auf Dienstreise ist“, sagte Rhodes. „Wir könnten wahrscheinlich unsere neuen Freunde Anderson und Benson damit beauftragen, diese Informationen zu beschaffen.“

„Du meinst, der Mörder könnte der Ehemann gewesen sein?“, fragte Chloe.

„Wahrscheinlich nicht. Aber da die Morde bisher keine Verbindung untereinander aufzuweisen scheinen, müssen wir jedes Kästchen abhacken, schätze ich.“

Chloe nickte. Es gefiel ihr, wenn sie und Rhodes so perfekt harmonierten. Ihre Partnerschaft hatte einen ziemlich holprigen Start gehabt, also war es gut, sich immer mal wieder vor Augen gefГјhrt zu bekommen, wie weit sie gekommen waren.

„Hey, Fine?“

„Ja?“

„Was ist wirklich dort draußen in Texas passiert?“

Chloe spürte wie das Nachsinnen über die Stimmigkeit ihrer Partnerschaft zu einem quietschenden Halt kam. Es ärgerte sie, dass Rhodes das ansprach – mit oder ohne Johnsons Anleitung – sie wollte aber nicht zeigen, dass es sie reizte. Sie wusste, dass das den Eindruck erwecken würde, als hätte sie etwas zu verbergen.

„Willst du die Story mit oder ohne das gesamte Familiendrama, das damit einhergeht?“

Rhodes grinste: „Ohne. Ich weiß, wie du es hasst, diesen Scheiß wieder raus zu kramen.“

Chloe zögerte einen Moment lang, unsicher, wie sie vorgehen sollte. Wenn Rhodes bloß eine Rolle spielte, dann spielte sie diese gut.

„Dad und Danielle sind bei ihm in der Wohnung in irgendeinen Streit geraten. Ich weiß nicht einmal genau, worum es ging, weil Danielle mir keine Einzelheiten nennen will. Aber am Ende denke ich, ist Dad einfach der Kragen geplatzt und…“

„Ja?“

„Rhodes, ich hoffe du nimmst das nicht persönlich, aber ich will wirklich nicht darüber reden. Nicht jetzt. Es wird mich aus dem Konzept bringen und mich davon abhalten, mich auf den Fall zu konzentrieren. Das kannst du verstehen, oder?“

„Natürlich.“

Chloe konnte nicht genau sagen, ob sie Enttäuschung in ihrer Miene und Stimme entdecken konnte, oder nicht. Sie verfluchte den Gedanken, dass Rhodes sie tatsächlich ausspionieren könnte, mit dem Auftrag alles, was sie herausfand, an Johnson und die über ihm stehenden Instanzen weiterzugeben. Doch für diesen Moment musste sie bei jedem Wort, das aus ihrem Mund kam, unglaublich vorsichtig sein.

Jedoch deutete das Schweigen, das sich zwischen ihnen einstellte, darauf hin, dass Rhodes nicht erwartet hatte auf diese Weise zurechtgewiesen zu werden. Die Luft im Auto war dick, während Rhodes sie nach Colin fuhr.

Es war so angespannt, dass Chloe einen kleinen Sprung machte, als ihr Handy klingelte. In der Hoffnung, dass Rhodes ihre Reaktion nicht bemerkt hatte, beantwortete sie schnell den Anruf.

„Hier ist Agentin Fine.“

„Agentin Fine, hier ist Deputy Anderson“, hörte sie Andersons melodische Stimme. „Ich dachte, sie sollten wissen, dass wir gerade darüber benachrichtigt wurden, dass ein Officer in Colin soeben einen Mann festgenommen hat. Er ist sich ziemlich sicher, dass es sich um Steven Fieldings Mörder handelt.“

„Irgendwelche möglichen Verbindungen zu Bjurman?“, fragte Chloe.

„Wir wissen es noch nicht. Aber ich habe denen gesagt, dass ich Sie informieren würde. Sie fertigen ihn gerade in diesem Moment erst ab. Er sollte bereit sein, vernommen zu werden, sobald Sie an der Wache ankommen.“

Chloe dankte ihr und legte auf. „Das war Anderson. Sieht so aus, als hätte die Coliner Polizei den Mörder gefasst.“

„Beider Opfer?“

„Noch weiß das keiner.“

„Tja, dann lass es uns herausfinden“, sagte Rhodes, und trat kräftiger auf das Gaspedal.


***

Die Polizeihauptwache Colins war wahrscheinlich die kleinste, die Chloe je betreten hatte. Die Eingangshalle formte ein perfektes Quadrat, in dem ein kleiner Wartebereich, winzige Arrestzellen und ein kleiner Snackbereich Platz gefunden hatten. Es roch nach Raumspray und starkem Kaffee. Der Ort machte aber einen soliden Eindruck, alles war an seinem Platz und in guter Ordnung. Wenige Sekunden nachdem Chloe und Rhodes eingetreten waren, trafen sie auf einen kleinen, aber muskulösen Mann, der in großer Eile zu sein schien. Er trug seine blaue Uniform, das Hemd klebte ihm am verschwitzten Brustkorb. Das Namensschild auf seiner linken Brusthälfte besagte Cooper.

„Die Agentinnen?“, fragte er.

„Wir sind’s“, sagte Rhodes. „Agentinnen Rhodes und Fine.“

„Fantastisch“, sagte Cooper. „Kommen Sie mit nach hinten durch.“

Er führte sie an den Arrestzellen vorbei und auf einen Flur, der in den ziemlich engen hinteren Teil des Gebäudes führte. Er machte keine Anstalten, sie in ein Büro zu bitten, sondern führte sie geradewegs durch zum hinteren Ende des Gebäudes, wo eine Wartezelle an einen separaten Raum angrenzte, in dem, so nahm Chloe an, der Verdächtige untergebracht war.

„Hier ist was wir haben“, sagte Cooper. „Vor ungefähr einer Stunde haben wir einen Anruf von Rock and Sam’s, einer Bar hier um die Ecke bekommen. Der Bartender, Sam, ist ein guter Freund von mir, ich kann für ihr bürgen. Er sagte, dass ein Typ reingekommen war, ein Typ, den er zuvor schon gesehen hatte, namens Carol Hughes. Er isst dort immer zu Mittag. Hughes bestellte das Übliche, und als er die Hand nach seinem Bier ausstreckte, bemerkte Sam eine Uhr an seinem Handgelenk. Es war eine schicke Uhr, eine die nicht wirklich zu dem Typen zu passen schien. Nicht nur das, sondern Sam hatte genau so eine Uhr in der Vergangenheit schon ein paar Mal gesehen – und zwar am Handgelenk von Steven Fielding.“

„Wirklich?“, fragte Rhodes. „Er meint, er hat dieselbe Uhr schon bei jemand anders gesehen?“

„Naja, es ist eine ziemlich einzigartige Uhr. Sie ist aus Gold – ich bin mir nicht sicher, ob es echtes Gold ist, oder nicht – und sie hat das Logo der Tennessee Volunteers auf dem Zifferblatt. Sam sagte, dass er sich genau erinnerte, dieses Logo vor ein paar Wochen auf der Uhr gesehen zu haben, die Steven trug, als er über College Football schimpfte. Als er die Uhr also an Hughes Handgelenk sah, erinnerte er sich daran, dass er gehört hatte, dass Steven vor ein paar Tagen erst bei einem abscheulichen Einbruch ermordet worden war. Er rief uns unauffällig an. Ich bin persönlich drangegangen und bin dann zur Bar, um den Kerl aufzugabeln. Er hat sich fast in die Hose gemacht, als er die Polizei in die Bar kommen sah. Hat sich gegen die Festnahme gewehrt, hat aber nichts gestanden.“

„Das klingt schon sehr eindeutig“, sagte Chloe.

„Wenn Sie die Uhr sehen wollen, sie wurde soeben konfisziert und zu den Beweismaterialien gebracht. Hab� sie nach Fingerabdrücken untersucht, und es scheint zwei verschiedene Paar zu geben. Ich würde mein Haus darauf verwetten, dass die einen Fielding gehören und die anderen unserem Verdächtigen.“

„Das wird nicht nötig sein“, sagte Chloe. „Ich denke, es würde reichen, wenn wir mit dem Verdächtigen sprechen könnten.“

„Fühlen Sie sich wie zuhause. Und lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas brauchen.“

Mit diesen Worten sperrte Cooper die Tür zum separaten Raum neben der Arrestzelle auf. Wie Chloe erwartet hatte, diente dieser als Verhörraum. Im Zentrum des Raumes stand ein klischeehafter Tisch, an den Carol Hughes mit Handschellen am rechten Handgelenk festgeschnallt war. Als Chloe und Rhodes den Raum betraten, sah er so aus, als würde er gleich vom Stuhl aufspringen

Er war ein sehr unauffälliger Mann. Er konnte einen Haarschnitt gebrauchen, da seine Koteletten wucherten und seine Stirn mit unordentlichen Strähnen fettigen Haares bedeckt war.  Er schaute sie mit großen Augen an und dann kam ein Ausdruck der Verwirrung über sein Gesicht. Chloe begann sich langsam zu fragen, ob Rhodes und sie zu Partnerinnen gemacht worden waren, um die Hypothese zu überprüfen, dass Verdächtige oft verblüfft waren, wenn sie zwei zierliche Frauen hereinkommen sahen. Sie fragte sich, ob eine solche Verblüffung Kriminelle aus dem Konzept bringen konnte. Wenn das FBI nach Belegen suchte, dass dies der Fall war, wäre Hughes ein großartiges Subjekt für eine derartige Studie gewesen.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, fragte er.

Chloe zeigte ihre Dienstmarke und ihren Ausweis vor, bevor sie sich dem Tisch näherte. Es gab keine Stühle auf der anderen Seite, also blieben sie und Rhodes einfach stehen. Sie standen nah am Tisch dran, um sicherzustellen, dass Hughes sich eingesperrt und umzingelt fühlte.

„Was war ihre Beziehung zu Steven Fielding?“, fragte Chloe.

„Gar keine. Ich hatte ihn in der Bar gesehen. Sah so aus, als könnte er Geld haben.“

„Scheint ziemlich dumm zu sein, eine Uhr zu tragen, die Sie aus seinem Haus geklaut haben. Besonders nachdem Sie ihn umgebracht haben. Sehen Sie das nicht auch so?“

Ein Anflug von Wut Гјberzog Hughes Gesicht, aber nur kurz. Offensichtich wurde seine Wut schnell von der Einsicht weggespГјlt, wie tief er nun wirklich in der Patsche saГџ.

„Ich wollte das nicht“, sagte er.

„Was genau?“, fragte Rhodes.

Hughes kämpfte einen Moment lang gegen etwas an. Chloe hatte es schon oft erlebt; selbst nachdem Menschen mit ihrer eigenen Schuld konfrontiert worden waren und genau wussten, dass sie erwischt worden waren, war es oft sehr schwer für sie einzugestehen, dass sie diese moralische Grenze überschritten hatten.

„Hören Sie, ich weiß, dass es falsch war, aber ich brauchte einfach etwas extra Geld, wissen Sie? Ich habe vor drei Monaten meinen Job verloren und die Rechnungen…man, es werden einfach immer mehr. Und meine Braut, sie will…sie will nicht einmal über eine Hochzeit nachdenken, solange ich nicht stabil bin…“

„Also erschien Ihnen ein Einbruch die angemessene Lösung zu sein?“, fragte Rhodes.

Chloe hatte dasselbe gedacht, doch sie hatte nie den Sinn darin gesehen, einen Verdächtigen vor den Kopf zu stoßen. Es führte meistens nur dazu, dass alles nur noch länger dauerte. Ehrlichgesagt hatte sie sich in Bezug auf Hughes auch die ganze Zeit den Kommentar verkneifen müssen, dass es wahrscheinlich keine gute Idee war, Bars zu frequentieren, wenn er seit drei Monaten keine Arbeit mehr hatte.

„Erzählen Sie uns der Reihe nach was passiert ist“, sagte Chloe.

„Ich bin ihm ein paar Tage lang nachgegangen, um mir seinen Tagesablauf zu merken. Ich dachte nicht, dass er zuhause sein würde. Ich hatte vor da schnell rein und raus zu sein, und das wäre alles.“ Er hielt nun einen Moment lang inne und erst dachte Chloe schon, er könnte anfangen zu weinen. Doch, was sie als Angst deutete, begann sich langsam in Horror zu verwandelt. Hughes begriff die Schwere dessen, was er getan hatte, und es begann endlich bei ihm einzusickern und ihn herunterzuziehen.

„Doch als ich durch die Eingangstür kam war er direkt vor mir, auf dem Sofa. Ich hatte ein Brecheisen in der Hand, weil ich erwartet hatte, dass ich die Tür aufbrechen müsste. Und als er auf mich zukam und wir zu kämpfen begannen, ist es… ist es einfach mit mir durchgegangen. Ich war überrascht und erschrocken und ich habe einfach… ich habe begonnen ihn mit dem Brecheisen zu schlagen. Und ich konnte nicht aufhören… ich konnte nicht…“

„Was hat Sie dazu gebracht aufzuhören?“, fragte Rhodes.

„Ich habe gehört, wie das Garagentor aufging. Ich nehme an, es war seine Frau, die nach Hause gekommen war. Ich hatte auch das auf dem Schirm. Ich wollte einfach rein und wieder raus, bevor sie zurückkam, wissen Sie? Ich wollte nie jemanden verletzen oder töten… aber ich habe dieses Garagentor gehört und hörte auf. Ich sah, was ich getan hatte und…“

Er stoppte, immer noch nicht in der Lage sich dazu zu bringen, es auszusprechen.

„Reden Sie weiter“, beharrte Chloe.

„Ich wusste, dass er tot war und ich hatte das Gefühl, dass ich irgendetwas mitnehmen musste. Ich habe die Uhr gesehen, dachte sie sei aus Gold. Holte sein Portemonnaie aus seiner hinteren Hosentasche und nahm das Geld heraus. Zweiundachtzig Dollar.“

„Und dann sind Sie gegangen?“, fragte Chloe. „Direkt aus der Tür heraus?“

Hughes nickte. „Ich konnte sogar das Garagentor wieder zugehen hören. Ich habe seine Frau wahrscheinlich bloß um knappe dreißig Sekunden verpasst.“

„Sie wussten, dass er tot war, als sie gegangen sind?“, fragte Rhodes.

„Nicht mit absoluter Sicherheit.“ Er zitterte nun und die Handschellen um sein Handgelenk ratterten gegen die Stange, an die er gekettet war. „Aber so wie sein Schädel aussah… und das ganze Blut, ich dachte mir, es sei unmöglich, dass er noch am Leben ist. Oder wenn er nicht tot war… dann würde er es bald sein…“

„Mr. Hughes, kennen Sie einen Mann namens Viktor Bjurman?“

Die Frage schien ihn zu überrumpeln, vielleicht, weil sie auf den ersten Blick in keiner Verbindung zu seinen eigenen Handlungen stand. Nachdem er einen Moment lang darüber nachgedacht hatte, schüttelte er den Kopf. „Nein. Nein, nicht, dass ich wüsste.“

„Waren Sie zu irgendeinem Zeitpunkt in der letzten Woche in Pine Point?“, fragte Chloe.

„Ja. Da gibt es einen kleinen Reformmarkt. Ich kaufe dort meine Vitamine. Das war… letzten Freitag, glaube ich.“

Chloe machte einen Schritt vom Tisch weg. Sie betrachtete Hughes und dachte an seine Aussage und seine Antworten. Selbst ein schlechter Lügner konnte eine Story wie diese erfinden. Doch man musste schon ein wahrer Soziopath sein, um auch die kleinsten Details, vom Zittern bis zum Ausdruck aufrichtiger Angst, so gut hinzubekommen. Auf der Basis ihrer Instinkte und ihrer Erfahrung wusste sie, dass er die Wahrheit sagte – und dass es ihm vor den möglichen Konsequenzen graute. Die Tatsache, dass er sogar ein kleines persönliches Detail, wie die Vitamine, mit in seine Geschichte eingeschoben hatte, überzeugte sie endgültig.

Und davon ausgehend, war sie sich ziemlich sicher, dass das nicht der Mann war, der Viktor Bjurman umgebracht hatte. Was bedeutete, dass die Morde Гјberhaupt nichts miteinander zu tun hatten. Sicher, es fГјhlte sich ziemlich gut an, recht behalten zu haben, doch es war ebenso frustrierend, da sie nun wieder ganz am Anfang standen, was Bjurmans Mord anbelangte.

„Mr. Hughes, wir werden die Polizei vor Ort bitten mit Ihnen zu arbeiten und einen Zeitablauf festzuhalten, der Auskunft darüber gibt, was Sie getan haben und wo Sie gewesen sind in der Zeit zwischen ihrem unbeabsichtigten Totschlag an Mr. Fielding und dem Moment, an dem sie festgenommen wurden. Wenn Sie alles detailliert genug angeben können, wird das FBI nicht eingeschaltet werden müssen. Haben Sie alles verstanden?“

Er nickte und schaute immer noch wie ein verwirrter Schüler im Matheunterricht drein. „Ich verstehe bloß nicht, wie das alles passiert ist. Ich verstehe nicht…“

„Haben Sie noch etwas, Agentin Rhodes?“, fragte Chloe.

„Nichts.“

Die Agentinnen ließen Hughes sitzen, wo er war, mit einem verängstigten und nun auch ziemlich verwirrten Ausdruck im Gesicht. Sobald sie wieder auf dem Flur standen, kam Cooper zu ihnen herübergeeilt. Ein weiterer Polizist war nun an seiner Seite und sie sahen beide genauso verwirrt aus, wie Hughes eben bei ihrem Verlassen des Raumes.

„Stimmt irgendetwas nicht?“, fragte er.

„Nein“, sagte Choe. „Sie und Ihre Männer haben hervorragende Arbeit geleistet. Das ist hundertprozentig ihr Mann, bloß nicht derjenige, den wir suchen. Wenn Sie feststellen könnten, wo er die letzten paar Tage gewesen ist, sodass wir ihn als Viktor Bjurmans Mörder ausschließen können, wäre das super.“

„Ja… ich habe mir gedacht, dass er den Mord nicht auch noch begangen hat“, sagte Cooper. „So zittrig und verängstigt wie er ist, kann ich mir nicht einmal vorstellen, wie er das, was er Fielding angetan hat, vollbringen konnte. Ich meine, Grundgütiger… haben Sie die Fotos gesehen?“

Sie wollte die Haltung der Polizisten nicht irgendwie beeinflussen, daher nickte Chloe bloß. Sie gab Cooper ihre Visitenkarte und sagte: „Würden Sie uns bitte anrufen, sobald sie eine ungefähre Zeitabfolge der Ereignisse haben?“

„Natürlich“ sagte Cooper, obwohl offensichtlich war, dass er noch nicht ganz begriffen hatte, wieso sie bereits gingen.

„Danke für Ihre Zeit“, sagte Rhodes, als sie an ihm vorbei zurück zum vorderen Teil des Gebäudes gingen.

Chloe war es unangenehm, dass sie auf eine nahezu unhöfliche Art und Weise gegangen waren, doch es gab wirklich keinen Grund für sie dort noch länger zu verweilen. Während sie zu ihrem Auto zurückliefen überlegte Chloe angestrengt, ob es nicht auch nur die kleinste Möglichkeit gäbe auf Nummer sicher zu gehen, dass Carol Hughes nicht auch noch Bjurman umgebracht hatte – obwohl jeder Justizbeamte, der seinen Namen wert war, das schon nach zwei Minuten in der Gegenwart des Kerls sagen könnte.

„Gut für die Coliner Polizei“, sagte Rhodes, als sie hinters Steuer stieg. „Ich bezweifele, dass diese Kerle jemals so viel Action abbekommen.“

„Ja, gut für sie“, sagte Chloe. Dann fügte sie hinzu: „Du hast es auch gesehen, oder? Er war geschockt von dem, was er getan hatte… fast so, als würde er es selbst immer noch nicht glauben können.“

„Ja, ich hab’s bemerkt. Nicht ganz was man von einem kaltblütigen Mörder zweier Männer erwarten würde, der vom FBI verhört wird.“

„Trotzdem sollte wir versuchen ein Alibi ausfindig zu machen. Mal sehen, was Cooper und seine Männer herausfinden können.“

„Einverstanden“, sagte Rhodes. „Aber was machen wir bis dahin?“

Chloe dachte einen Moment lang nach und sagte schließlich schulterzuckend: „Mittagessen?“

Es bedeutete die Niederlage zugeben, ohne sie tatsächlich zuzugeben. Chloe konnte den Gedanken nicht ausstehen, dass einen Mörder zu überführen als Niederlage zu werten war, aber der scheinbar banale Fall von Carol Hughes setzte sie schon zurück, was den Fall Bjurman anbelangte. Chloe wusste, dass ohne eine Verbindung zwischen Bjurman und Fielding sie vom Fall abgezogen werden würden, was bedeuten würde, dass Bjurmans Tod als ungelöster Mord an die örtlichen Polizeibehörden übergeben werden würde.

Und es war diese BefГјrchtung, die ihr noch etwas anderes offenbarte: die Tatsache, dass sie um jeden Preis an diesem Fall weiterarbeiten wollte, weil sie nicht bereit war zu dem Drama zurГјckzukehren, das zuhause mit Danielle auf sie wartete.


***

Ihr Mittagessen bestand aus einer fettigen, jedoch köstlichen Pizza und ein paar Salaten in einem örtlichen Pizzaladen. Sie aßen ziemlich schweigsam und waren sich sicher, dass Johnson oder einer seiner Untergebenen sie in jedem Moment anrufen würde, um sie zurückzupfeifen. Rhodes hatte das FBI Hauptquartier angerufen, nachdem sie das Polizeipräsidium von Colin verlassen hatten, um die Neuigkeiten zum Fall mitzuteilen, und selbst das hatte sich schon ziemlich final angefühlt. Chloe hatte keinerlei Zweifel daran, dass ihr Besuch in Pine Points sich dem Ende neigte.

„Quält dich noch irgendwas?“, fragte Rhodes.

„Wieso fragst du?“

Schulterzuckend wischte sich Rhodes die Hände an einer Serviette ab, die bereits von ihrer Margarita Pizza ganz durchfettet war. „Du siehst verstört aus… so, als hättest du etwas verloren.“

„Vielleicht ein bisschen“, gab Chloe zu. „Ich habe keinerlei Zweifel, dass Hughes Bjurman nicht umgebracht hat. Aber die ganze Bjurman Sache… irgendetwas an Theresa Diaz kommt mir sonderbar vor.  Selbst, wenn sie damit rausgerückt wäre, dass sie mit Bjurman schlief – von was ich, übrigens, ziemlich überzeugt bin– ich glaube es gibt da immer noch etwas… etwas, das sie verbergen könnte.“

„Wenn sie miteinander geschlafen haben, war es vielleicht mehr als nur eine Affäre“, legte Rhodes nahe. „Vielleicht waren sie verliebt?“

„Möglich.“

Sie schwiegen erneut und Гјberlegten sich das Gesagte. Etwa ein Viertel der Pizza war noch Гјbrig, obwohl beide Agentinnen sich satt gegessen hatten.

Chloe konnte eine kleine Veränderung in sich spüren, als die Möglichkeit ihrer Rückkehr nach Hause immer realer wurde. Obwohl sie tatsächlich froh war von dem ganzen Danielle Drama fern zu sein – selbst wenn nur auf einer Distanz von eineinhalb Stunden Fahrt – machte sie sich trotzdem sehr große Sorgen darum, wie ihre Schwester reagieren würde, wenn (was viel wahrscheinlicher war, als falls, nahm Chloe an), das FBI sie kontaktieren würde. Die ganze Angelegenheit erzeugte einen glühenden Knoten der Sorge in ihrer Magengrube, weshalb sie ihr Bestes gab, diese Gedanken zu verscheuchen.

Als Rhodes Handy klingelte, während sie auf die Rechnung warteten, zuckten sie beide etwas zusammen. Sie dachten sich beide, dass es wohl Johnson sein würde, und Chloe gab ihr Bestes, nicht beleidigt zu sein, dass er sich entschlossen hatte, Rhodes statt sie zu kontaktieren.

Chloe hörte genau zu und versuchte so zu tun, als wäre sie nicht allzu interessiert an dem, was gesagt wurde. Doch das Mithören von Rhodes Anteil in diesem sehr kurzem Telefonat sagte ihr alles, was sie wissen musste. Als Rhodes auflegte, bestätigte ihr Gesichtsausdruck das. Es war eine Miene von milder Irritation und einer matten Art von Erleichterung.

„Er will, dass wir uns mit der Coliner Polizei in Verbindung setzen, bevor wir fahren, und dann sollen wir zurück nach Hause kommen“, sagte Rhodes. „Und wenn du mich fragst, sollten wir dann genau zur richtigen Zeit in DC sein, um noch ein paar Drinks zu trinken, bevor wir den Tag beenden.“

Sie beglichen ihre Rechnung und machten sich auf zum Coliner Polizeipräsidium. Auf ihrem Weg zurück nach Colin fuhren sie genau an dem Gehsteig vorbei, wo Bjurman ermordet worden war. Ohne Polizeiautos und Tatortabsperrung, sah es wie eine ganz normale Straßenecke in einer beliebigen Stadt Amerikas aus. Chloe verstörte es irgendwie zu wissen, dass es Antworten an dieser Straßenecke gab, die womöglich niemals gefunden werden würden – Antworten die, so wie es jetzt aussah, für immer außerhalb Chloes Reichweite verbleiben würden.




KAPITEL SIEBEN


Danielle balancierte auf der sehr feinen Grenze zwischen angeheitert und absolut betrunken, als irgendjemand an ihrer Tür klopfte. Sie hatte getrunken, um diesem Kapitel ihres Lebens ein Ende zu setzen, es verschlossen zu halten, wie eine Schatztruhe, die auf dem Grund des Ozeans begraben war. Auf der Arbeit hatte man ihr letzten Abend keine Schicht zugeteilt, und auch keine für heute Abend. Aber sie würde morgen wieder anfangen, mit der Nachmittags- und der Nachtschicht auf einmal. Sie hatte nie gedacht, dass sie sich freuen würde, den Stripclub wiederzusehen oder den Geruch von verschüttetem Alkohol und billigem Rasierwasser der Männer, die an den Bars saßen, zu riechen.

Doch sie konnte es kaum erwarten, wieder zurГјck zu sein. Aber zuerst wollte sie in gewissem Sinne einen kleinen Absturz erleben. Es war eine Weile her, dass sie sich alleine betrunken hatte. Sie war sich sicher, dass manche Leute es als traurig und armselig ansehen wГјrden, aber sie hatte es immer als eine Art Befreiung empfunden, die sie nicht ganz einordnen konnte.

Als es an der Tür klopfte, hatte sie bereits drei Margaritas runtergekippt, die sie in ihrem Mixer gemacht hatte – eine perfekte Mixtur, die sie auf der Arbeit gelernt hatte. Als sie zur Tür hinüberging, fragte sie sich, ob es Chloe sein könnte, die gekommen war, um alles noch einmal persönlich zu besprechen. Danielle hoffte beinahe, dass dies der Fall war. Mit einer ausreichenden Menge von Tequila in sich, würde sie ungehemmt die Dinge aussprechen, die eine nüchterne Danielle eher für sich behielt.

Als sie öffnete, fand sie allerdings nicht Chloe auf der anderen Seite der Tür vor. Es war ein Mann, auf eine Art gekleidet, die Danielle immer als „Affen-Anzug“ empfunden hatte. Weil ihre Schwester beim FBI arbeitete, erkannte sie die Klamotten und die viel zu ernste Miene sofort. Er war ein föderaler Agent. Er sah asiatischer Herkunft aus und als er sie anlächelte, erschien ihr sein Lächeln viel zu gestellt.

„Danielle Fine, korrekt?“, sagte der Mann.

„Ich bin’s. Und Sie sind…?“

„Agent Shin, FBI.“ Er zückte seine Dienstmarke und erlaubte ihr diese einen Moment lang zu betrachten, bevor er sie wieder zuklappte und zurück in die Innentasche seiner Jacke steckte. „Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich für einen Moment reinkäme?“

„Bei allem Respekt, wozu?“, fragte Danielle.

„Naja, obwohl ich Ihre Schwester nicht persönlich kenne, habe ich von der Tortur gehört, die sie beide in Texas durchgemacht haben. Es ist eine Geschichte, die beim FBI irgendwie die Runde macht. Ich wurde gebeten vorbeizukommen, und nach Ihnen zu sehen.“

„Von wem?“

„Von meinem Vorgesetzten. Es gibt ein paar lose Enden, was die Ereignisse in Texas angeht, und wir versuchen diese aus der Welt zu schaffen. Natürlich können diese Dinge bei Ihrer Schwester intern geklärt werden. Aber wir brauchen einfach auch einige Versicherungen und Antworten von ihrer Seite.“

Sie sah ihn skeptisch an, machte aber die Tür auf und ließ ihn hinein. Sie erinnerte sich, dass Chloe ihr am Telefon erzählt hatte, dass es eine interne Ermittlung gäbe und dass sie ruhig bleiben sollte, wenn jemand zu ihr käme, um Fragen zu stellen.

Sie trat zur Seite und machte die Tür weit auf, damit Agent Shin reinkommen konnte. Danielle setzte sich an ihren Küchentisch, womit sie ihm auf eine höfliche Art und Weise klar machte, dass sie nicht vorhatte, ihn tiefer in ihre Wohnung vordringen zu lassen. Shin gab nach und lehnte sich an ihre Küchenzeile.

„Zu allererst“, sagte er, „wie geht es Ihnen? Ich weiß, dass sie von der ganzen Sache einige Verletzungen davongetragen haben.“

„Danke der Nachfrage“, sagte sie und gab ihr Bestes ihren Charme dick aufzutragen. „Aber ich scheine in Ordnung zu sein. Ich gehe morgen zurück an die Arbeit und – ich kann es genauso gut auch zugeben – ich habe heute sozusagen gefeiert.“ Sie nickte zum Mixer mit dem blass-grünen Drink herüber.

Shin lächelte und sagte: „Freut mich zu hören. Nun, ich muss sie das irgendwie fragen und es tut mir leid, wenn das zu persönlich ist, aber haben Sie vor, sehr auf der Fahndung nach ihrem Vater zu bestehen?“

„Nein“, sagte sie sofort. „Scheiß auf ihn. Der einzige Moment, in dem ich mich um ihn scheren werde, ist wenn er in DC auftaucht, um mich und Chloe wieder zu bedrohen.“

„Naja, wie Sie wissen, wurde seine Beschreibung an mehrere Feldoffiziere verteilt. Aber wir können es nicht zu einer Priorität machen, außer Sie bestehen darauf.“

Danielle zuckte mit den Schultern und nippte an ihrer derzeitigen Margarita. „Chloe und ich können das noch einmal besprechen, aber ich glaube, wir sind fertig mit ihm.“

Shin nickte, so als wГјrde er sie genau verstehen. Als er nickte, durchfuhr Danielle ein kleiner Funken Angst. Sie dachte daran, wie sie das Loch in einer wahnsinnigen Eile ausgehoben hatten, die Leiche ihres Vaters hineingeworfen und es wieder aufgeschГјttet hatten. Hatten sie tief genug gegraben? War irgendein nach Nahrung suchender kleiner Fuchs bereits vorbeigekommen und hatte ihren Vater als Leckerbissen fГјr sich entdeckt?

„Nachvollziehbar“, sagte Shin. „Ich habe einige weitere Fragen zu dem, was vorgefallen ist, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Schon wieder? Wirklich?“

„Ich weiß. Aber da ihre Schwester eine föderale Agentin ist, müssen wir wirklich sichergehen, dass wir alles verstehen.“

„Ja, ich verstehe, denke ich“, sage sie. Ihr war sehr bewusst, dass sie angeheitert war. Ein Ausrutscher oder selbst die geringste Abweichung von der eingeübten Geschichte, und sie würden riesige Probleme bekommen.

„Erinnern Sie sich, wie lange Sie genau in diesem verlassenen Schlachthof in Millseed gewesen waren? Wie lange hat Ihr Vater Sie dort festgehalten?“

„Ich war mir nie ganz sicher. Vielleicht etwas länger als einen Tag. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir am Nachmittag dort ankamen, weil die Sonne gerade unterging. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie erneut habe untergehen sehen. Es war schwer das von dort drinnen zu sagen, wissen Sie?“




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